Materialien 1986

Kulturkritik

Was ist ein Kritiker? Wie wird man Kritiker? Wie wird man Kulturkritiker der Süddeutschen Zei-
tung?

Jeder Autofahrer muss eine Fahrprüfung ablegen, damit er einen Führerschein bekommt. Gibt es einen Führerschein für Kulturkritiker?

Worin besteht die Befähigung, die dazu berechtigen würde, ein Theaterstück zu verreißen?

Kunst, diese Einsicht verdanken wir Gottfried Benn, ist das Gegenteil des bloß Gutgemeinten. Ist das der Standpunkt, von dem aus man kritisieren darf?

Steht am Anfang nicht immer das „Gutgemeinte“? Wird nicht von Gottfried Benn von vornherein jedes Engagement, jede Emotionalität, jede Gesellschaftskritik als unkünstlerisch denunziert, weil es seiner Auffassung von Ästhetik nicht entspricht?

Wir stellen diese ganzen Fragen, weil sich in den Spalten der Süddeutschen Zeitung immer wieder Beispiele für jene Besserwisserei finden, die unter dem Deckmantel von Kulturkritik Gegner des Establishments mundtot zu machen versucht.

Dem Establishment in der Bundesrepublik Deutschland wäre es am liebsten, die Schriftsteller würden wie Gottfried Benn in l’art pour l’art machen. Kunst für die Kunst – dafür haben sie zahl-
reiche Literaturpreise, zum Beispiel den Förderpreis der deutschen Industrie, zur Hand. Begreif-
licherweise wird die engagierte Literatur denn auch immer an ästhetischen Maßstäben gemessen, die ihr gar nicht entsprechen.

Was hat Wolfgang Weyrauch mit Gottfried Benn zu tun? Kann man beide über denselben Kamm scheren?

Weyrauchs Hörspiel „Die japanischen Fischer“ entstand 1959 aufgrund einer Zeitungsmeldung: Nach einem amerikanischen Atombombenversuch waren 9 japanische Fischkutter vom radioak-
tiven Fallout getroffen worden. Trotz der eigenen Hautverbrennungen hatten die Fischer ihren radioaktiv verseuchten Fang auf den Markt gebracht.

Kann man ein solches Stück nach l’art-pour l’art-Maßstäben kritisieren? Die Süddeutsche Zeitung tut es – ihr Kritiker Wolfgang Höbel nennt die Neugestaltung des Weyrauchschen Hörspiels auf der Bühne des Münchener „Theater am Sozialamt“ ein „Besserwisser-Drama“.

Wie kanzelt der SZ-Kritiker die Theaterleute des TAMS nun ab? Er schreibt: „Bühnenbildner Eber-
hard Kürn hat aus wallenden Vorhängen und gedämpftem Licht ein traurig-schönes Japan-Szena-
rio angerichtet, das sterile Tonstudio steht dazu in wohlüberlegtem Kontrast. Dem Zuschauer könnte dieser Rahmen immerhin Gelegenheit geben, über die Ästhetisierung des Schreckens nach-
zudenken. Doch das gibt die Aufführung nicht her.“

Geht ein Kritiker, der von einem Weyrauch-Stück eine „Ästhetisierung des Schreckens“ verlangt, nicht von einem falschen Standpunkt aus? Natürlich: „Die fünf jungen Schauspieler gehen das Thema mit einer solchen Überdosis an händeringender Ergriffenheit an, dass der atomare Show-
down bald ins Unfreiwillig-Komische kippt.“

Unfreiwillig komisch fanden die wenigen Zuschauer, die sich trotz der SZ-Kritik ins TAMS gewagt hatten, dieses Stück nun nicht. Ein Leserbrief, mit dem 14 Unterzeichner gegen die rufmörderische Kritik protestierten, sprach von der Betroffenheit, die das Stück in ihnen ausgelöst hatte. Sie schreiben: „Die Kritik von Herrn Höbel richtet sich nicht nur gegen den menschlichen Schmerz, den uns die Schauspieler nahebringen konnten, sondern auch gegen Menschen, die noch den Mut aufbringen, immer wieder den Finger auf die Entwicklungen unserer Gesellschaft zu legen, die uns und unsere Umwelt bedrohen.“

Ein anderer Leserbrief, der uns vorliegt: „Ich erlebte die Gefühle der Schauspieler als ehrlich. Wenn Sie das nicht mehr spüren als Kritiker, dann muss Ihr Kopf nur noch destruieren, denn er hat zynisch resigniert. Das Thema der atomaren Vernichtung, das Weyrauch als das Menschheits-
problem heute erfahrbar macht, wird durch lockeres Kulturgeschwätz zerstört.“

Die Süddeutsche Zeitung druckte natürlich keinen der beiden Leserbriefe. Sie machte die Sache zu einer privaten Angelegenheit und ließ die Briefeschreiber von ihrem Kritiker Höbel unter Aus-
schluß der Öffentlichkeit mit ein paar läppischen Zeilen abspeisen.

Kulturkritik zeigt sich hier wieder einmal als die verschleierte Macht der Herrschenden. Nur wenige Monate vor Tschernobyl greift ein nicht subventioniertes Theater der Bundesrepublik ein Thema auf, das geradezu in der Luft liegt. Der Kritiker sorgt dafür, dass ein solches Stück schnell wieder abgesetzt werden muss – denn nach einer solchen Suada von Kritik bleiben die Zuschauer weg. Keine Rede davon, wie viel Arbeit, persönliches Engagement, Verzicht auf Freizeit, Ideen, Diskussion und auch Geld es einem Privattheater wie dem TAMS gekostet hat, „Die japanischen Fischer“ auf die Bühne zu bringen. Die Leute richten sich nach der Kritik in der Zeitung, und das ist die Macht des Kritikers, die er bedenkenlos bis zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz eines Anti-Establishment-Theaters ausnutzt.

Natürlich darf auch ein Wolfgang Höbel seine private Meinung haben. Kein Mensch muss gut finden, was Wolfgang Weyrauch geschrieben und Anette Spola auf die Bühne gebracht hat. Doch zeigt sich der Unterschied in der Macht der Meinungsäußerung ja doch wohl darin, dass der SZ-Kritiker seine Reaktionen als Zuschauer nicht im Leserbriefteil, sondern im Feuilleton der Zeitung veröffentlichen darf, während die Protestbriefe von Menschen, die anderer Meinung sind als er, nicht einmal im Leserbriefteil gedruckt werden.

Heinz Ullmann


Der Zeitgenosse 1/1986, 40 f.

Überraschung

Jahr: 1986
Bereich: Kunst/Kultur