Materialien 1949

Werte Kolleginnen und Kollegen!

Zum 60. Male feiern wir heute den 1. Mai, den Weltfeiertag der Arbeit. Zum 60. Male demon-
strieren die Schaffenden aller Länder der Erde für soziale Gerechtigkeit und Frieden und gegen Wirtschaftskrisen und imperialistische Kriege.

Nur die Alten unter uns wissen noch, welch opferreicher Weg von 1890, der Proklamierung des 1. Mai, bis zum heutigen Tage von den Arbeitern der Welt in ihrer Geschichte zurückgelegt werden musste.

Zwei Weltkriege von unvorstellbarem Ausmaß mit Millionen und Abermillionen von Toten, mit der Verwüstung ganzer Kontinente, dazwischen Wirtschaftskrisen in immer kürzeren Abständen, er-
schütterten in dieser kurzen Spanne Zeit die menschliche Gesellschaft.

Es war besonders für uns in den Betrieben nicht schwer festzustellen, dass sich der größere Teil der Unternehmer jeweils auf die Seite des Militarismus und Faschismus stellte. Unterstützt von den Diktatoren fielen sie in diesen Zeiten krass in die Fehler frühkapitalistischer Zeit zurück und mach-
ten uns in den Betrieben zu Sklaven. Statt unseren jahrzehntelangen Forderungen nach gerechter Verteilung des Sozialproduktes, des Produktes, das wir täglich mit unserer Hände Arbeit neu er-
schaffen, Rechnung zu tragen, jagten sie den Riesengewinnen nach, die sie sich durch Rüstung und Krieg versprachen. Wie verhängnisvoll sich diese Tatsache auswirkte, haben wir heute deutlich vor Augen.

Trotzdem gingen wir, die Schaffenden, nach dem totalen Zusammenbruch des 3. Reiches und damals Deutschlands mit gewohntem Verantwortungsgefühl für den Aufbau unserer Volkswirt-
schaft daran, die Verbrechen des vergangenen Regimes wieder gut zu machen.

Vom ersten Tage des Zusammenbruches an standen wir trotz schlechtester Ernährung, trotz der unzureichenden Löhne und unerschwinglich gewordenen Preise Tag und Nacht in den Betrieben, um dem deutschen Volke wieder eine Lebensgrundlage zu schaffen.

Sehnlichst haben wir Männer und Frauen in den Betrieben den Tag erwartet, an dem für ehrliche Arbeit ehrliches Geld gezahlt würde. Allzu lange ließ dieser Tag auf sich warten. Aber wir hatten wenigstens gehofft, dass der Tag X den sozialen Ausgleich endlich bringen werde. Es war klar, dass die Lasten dieses verlorenen Krieges zuerst die tragen sollten, die ihn verschuldeten. Mindestens aber sollten sie zu gleichen Teilen getragen werden. Welch ein Irrtum, Kolleginnen und Kollegen! Wieder sind wir es, die die Lasten des verlorenen Krieges tragen.

Aus der erwarteten sozialen Geldreform ist eine kapitalistische Geldreform geworden. Durch die Währungsgewinne und durch die Gewinne aus der Warenhortung mutig geworden, versuchen heute die alten Experten der Wirtschaft wieder das Ruder in ihre Hand zu bekommen. Hatten sie sich 1945 ängstlich verkrochen, so versuchen sie heute unter Ausnutzung der Menschlichkeit und Toleranz der Schaffenden allmählich ihre alten Kommandostellen wieder zu besetzen.

Kolleginnen und Kollegen! Dieses neue Experiment wird an dem geschlossenen Abwehrwillen aller Arbeiter, Angestellten und Beamten scheitern. Unsere Gewerkschaften, die einstmals zersplittert in Richtungsgewerkschaften dem Naziterror zum Opfer fielen, stehen stärker und geeinter denn je im Kampfe für unsere Interessen.

Endlich, Kolleginnen und Kollegen, nach so viel gebrachten Opfern, haben wir gelernt, dass es nicht allein genügt, für politische Freiheit, d.h. für die politische Demokratie zu kämpfen, wir wissen heute, dass ohne Mitbestimmung des arbeitenden Menschen in der Wirtschaft die politi-
sche Demokratie eine schöne Fassade bleibt, hinter der uns nur gewährleistet ist, uns zu verkaufen oder zu verhungern.

Wir wollen in Zukunft kein Stück des von uns in den Betrieben erarbeiteten Sozialproduktes aus der Hand legen, ohne durch Mitbestimmung unseren gerechten Anteil daran zu sichern und nicht ohne zu wissen, wohin es wandert.

Ihr Alten, Ihr Veteranen der Arbeiterbewegung unter uns, unsere Kämpfe sind nicht umsonst ge-
wesen. Wir sind bereit, aus Euerer jahrzehntelangen Erfahrung, aus der Erfahrung, die wir selbst durch die 12 Jahre des Faschismus erworben haben, die entsprechende Lehre zu ziehen. Aus dieser Lehre heraus fordern wir heute, am 60. Jahrestag des 1. Mai

die WIRTSCHAFTSDEMOKRATIE.

Erst mit ihrer Verwirklichung wird der schaffende Mensch im Betrieb nicht mehr Objekt, sondern Subjekt der Wirtschaft sein.

Erst mit ihrer Durchführung wird es uns gelingen, die jahrhundertlange Vorherrschaft des Unter-
nehmertums in der Wirtschaft zu brechen und uns selbst verantwortlich in die Wirtschaft mit einzubauen.

Kolleginnen und Kollegen! Gerade durch unseren Idealismus, den wir im Wiederaufbau unserer zerstörten Betriebe und damit unserer Volkswirtschaft seit dem Zusammenbruch bekundeten, haben wir bewiesen, dass wir in der Lage sind, die Mitverantwortung in der Wirtschaft zu tragen.

Wir fordern deshalb im Rahmen dieser Wirtschaftsdemokratie die Sozialisierung der Schlüsselin-
dustrie und das Mitbestimmungsrecht der von uns gewählten Betriebsräte in den Betrieben. In paritätisch zusammengesetzten Wirtschaftskammern muss unseren Gewerkschaften das Recht eingeräumt werden, in allen Fragen der Wirtschaftspolitik ein entscheidendes Wort mitzureden.

Durch die Verwirklichung der Wirtschaftsdemokratie werdet auch Ihr, junge Kolleginnen und Kollegen, Euer Schicksal in einem entscheidenden Maße selbst in die Hand nehmen. Wenn Ihr es versteht, verantwortlich im Staat, besonders aber in der Wirtschaft mitzubestimmen, bleibt Euch das traurige Schicksal der Millionen junger Menschen erspart, die auf den Schlachtfeldern des Völkermordens sinnlos geopfert wurden. Denn die Völker wollen den Frieden und nicht den Krieg. Die Wirtschaftsdemokratie versetzt Euch in die Lage, Euere Zukunft selbst zu gestalten und Eueren Kindern eine friedliche Welt des Wohlstandes zu sichern. Ihr erspart durch verantwortliche Mitbe-
stimmung Euch und kommenden Geschlechtern das traurige Los Euerer Väter, die trotz eines Lebens ehrlicher Arbeit heute als Sozialrentner am Hungertuche nagen.

Aber, junge Kolleginnen und Kollegen, für diese Aufgabe müsst Ihr aufgeschlossen und bereit sein, müsst im Verein mit den Bildungsmöglichkeiten unserer Gewerkschaften Euch für diese große Aufgabe formen und schulen.

Auch Euer Los, Kolleginnen, die Ihr treu in den Betrieben an unserer Seite steht, seit Euch der schrecklichste aller Kriege den Ernährer Eurer Kinder nahm, wird durch die geforderte Wirt-
schaftsdemokratie entscheidend verändert.

Wir fordern mit und für Euch das gleiche Recht, den gleichen Lohn bei gleicher Leistung und einen ausreichenden Schutz in Euerer schweren Arbeit.

Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen, dass unsere Forderungen von den Schaffenden der ganzen Welt gehört und begeistert aufgenommen werden. Lasst uns ihnen heute, an unserem Weltfeiertag über alle Grenzen hinweg die Hände reichen im Kampf für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.

Max Wönner


Manuskript, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung