Materialien 1949

Kolleginnen und Kollegen!

Ich freue mich, als Frau aus dem Betrieb hier auf dieser großen Kundgebung zum 60. Jahrestag des 1. Mai sprechen zu können. Wir Frauen nehmen allzu selten die Gelegenheit wahr, über unsere Sorgen und Nöte öffentlich zu reden.

Das mag seinen Grund in Jahrhunderte alten Vorstellungen und Vorurteilen haben, von denen wir uns bis auf den heutigen Tag nicht freizumachen verstanden. Hier, Kolleginnen und Kollegen, hin-
ken wir weit hinter der Wirklichkeit her!

Die Verhältnisse haben uns längst in großer Anzahl und seit langer Zeit vom heimischen Herd ver-
trieben. Hundertausende von uns stehen in den Betrieben, arbeiten in den Büros der öffentlichen Verwaltungen oder haben in einem anderen Berufszweig Eingang gefunden.

Diese Entwicklung ist nicht zuletzt eine Folge der beiden letzten Weltkriege!

Nicht nur, dass man uns den Mann, den Ernährer unserer Kinder von der Seite riss, wir mussten zusehen, wie in den Jahren des Faschismus unsere Kinder selbst auf die Schlachtbank geführt wurden!

Welch unsagbares Leid brachte gerade dieses verbrecherische System über uns Frauen!

Heute stehen wir Frauen mehr als damals im öffentlichen und politischen Leben. Nicht als wild gewordene „Mannweiber“, wie man uns oft gerne bezeichnet, nein, als künftige und seiende Mütter tragen wir ruhig, aber bestimmt und unentwegt dazu bei, die Welt des Mordens wieder in eine friedliche Welt des Glückes zu wandeln.

Wir besitzen von Natur aus einen gewissen Sinn für Realität, weil wir es sind, die in erster Linie den Alltag beherrschen und gestalten müssen. Aber seit wir aus dem engen häuslichen Kreis unseres Daseins in das wirtschaftliche und politische Leben unseres Volkes Eingang fanden, hat sich unser Blick erheblich geweitet.

Jetzt, Kollegen, treten wir bewusst an Euere Seite und erheben mit Euch die Forderungen, durch deren Erfüllung wir uns eine friedliche und gerechte Welt erhoffen.

Wir haben erkannt, dass wir vor allem in der Wirtschaft ein entscheidendes Wort in Zukunft mit-
sprechen müssen, denn wir sind es, die als Hausfrauen immer wieder fassungslos in den Läden vor den unerschwinglich gewordenen Preisen stehen. Durch unsere Hände fließen in der Hauptsache die kargen Löhne, die wir und unsere Männer nach Hause tragen.

Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten sehr wohl gelernt, einzuteilen und zu wirtschaften. Warum sollten wir nicht in der Lage sein, unsere Erfahrungen jetzt,wo wir selbst mitten im Wirt-
schaftsleben stehen, auf der höheren Ebene in der gesamten Volkswirtschaft mit zuverwerten.

Wir können nicht mehr tatenlos zusehen, wie unsere Kinder in eine Welt des Elends und des Hungers hineingeboren werden. Wir können es nicht mehr verantworten – und uns bricht fast das Herz darob –, dass unsere Brüder und Schwestern im Alter trotz eines harten Lebens ehrlicher Arbeit sich selbst überlassen werden und dem Verhungern nahe sind.

Wir erkennen, dass in einer Welt, die in immer kürzeren Abständen von gigantischen Kriegen und Wirtschaftskrisen, deren Ergebnis wir so furchtbar vor Augen haben, geschüttelt wird, etwas faul sein muss.

Dies erscheint uns in erster Linie unsere Wirtschaft zu sein. Sie wird heute noch allzu sehr von den Profitinteressen der Unternehmer geleitet und dient nicht – wie wir Frauen uns das vorstellen – allein dem Menschen.

DESHALB FORDERN WIR DIE WIRTSCHAFTSDEMOKRATIE!

In ihrem Rahmen fordern wir für uns Frauen:

Mitbestimmung in den Betrieben,

gleichen Lohn bei gleicher Leistung,

einen ausreichenden Schutz der werdenden Mutter

und den monatlichen Hausarbeitstag.

Kolleginnen, jetzt wende ich mich ausschließlich an Euch.

Um diese Forderungen erkämpfen zu können, müssen wir uns mehr als in der Vergangenheit von allen falschen Vorurteilen frei machen! Müssen Hand in Hand mit unseren Kollegen in den Be-
trieben unsere Geschicke selbst bestimmen!

Wir wenden uns nicht nur an die schaffende Frau, sondern ebenso dringlich an die Frauen der Schaffenden.

Gemeinsam unser Schicksal, gemeinsam unser Kampf!

Ein verbrecherisches Regime zwang uns einst zum Beitrag für den Krieg. Unsere Gewerkschaften rufen uns zum Aufbau einer Welt des Friedens.

Schaffende Frauen in Stadt und Land, folgt diesem Ruf!

Käthe Sand


Manuskript, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung