Materialien 1993

... zum Untergang verurteilt

Die Wege im Konzentrationslager Dachau sind lang und steinig, besonders um Mitternacht. Die Nacht vom 7. zum 8. Juli 1993 ist eher kühl, und ganz weit hinten in der Ecke des KZ-Geländes funkeln zwischen Zelten ein paar Lichter. Um 24.00 Uhr läuft das Ultimatum ab.

Die hundertzwanzig Roma, die übrig geblieben sind, ohne sich einschüchtern zu lassen, müssen das Gelände verlassen. Sie sind bedroht von der Abschiebung in die Bürgerkriegsgebiete Ex-Jugo-
slawiens und nach Rumänien, wo sie in einem ethnischen Krieg als sogenanntes „Freiwild“ gelten. Deshalb fordern sie seit Mitte Mai Bleiberecht für alle Roma in der Bundesrepublik. Und nun hat das bayerische Kultusministerium einen Strafantrag auf Verlassen des KZ-Geländes gestellt.

Die Kirche hat den Roma zunächst Asyl gewährt. Nichts anderes als Reklame während des Kir-
chentags. Nun sind die Roma der Kirchenleitung nur noch lästig. Kinder und Frauen laufen herum mit ratlosen Gesichtern, vielleicht Hundert Deutsche, die sich solidarisieren, sind da, und zwei Männer halten die blaugrüne Fahne der Roma. Jasar Demirov, der Chef der süddeutschen Roma-
Union, spricht laut und erzählt von seiner Enttäuschung und dass einer seiner Freunde am Nach-
mittag versucht hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Was sollen wir nur tun?

Blendend helles Licht wird angeschaltet: Irgendein Fernsehteam ist da und filmt, wie Kinderwägen bepackt werden und Einkaufswägen, wie Polsterberge sich auf Autos türmen und wie spärliche Habseligkeiten in großen blauen Müllsäcken vorsichtig verstaut werden. Am interessantesten scheinen schlafende Kleinkinder in den Armen ihrer vor sich hin weinenden Mütter zu sein. Eine ältere Romafrau, die gerade Decken zusammenträgt, schreit empört „Kamera lügt, Kamera lügt!“ und dann noch lauter „Kirche lügt!“. Das Fernsehen ist da und morgen bekommen all die selbstge-
nügsamen und dennoch so unglücklichen Träger des elektronischen Halsbandes ein Scheibchen Instantschicksal verabreicht, um stellvertretend betroffen zu sein.

Auch ein engagierter frommer Mann ist mit seinem Auto da und ruft immer wieder verzweifelt: „Ich nehme Frauen und Kinder mit.“ Der Kirchenmann meint es ehrlich, und deshalb tut mir seine kümmerlich-hilflose Haltung leid. Ohne diese Heiligen wären die Heuchler der Institution ein Nichts. Der fromme Mann ruft jetzt: „Ich nehme nur Frauen und Kinder mit.“ Er steht da und seine Stimme klingt brüchig.

Der Zeiger rückt unerbittlich vor. Der Zug, bepackte Menschen, einige schwer beladene Autos, einige Deutsche mit Transparenten wie „Früher vergast – heute verjagt“, dieser traurige Zug setzt sich langsam in Bewegung. Der Weg durch das KZ ist lang und beschwerlich. Die Sprechchöre „Bleiberecht für Roma“ und „Abschiebungsstopp" brechen sich an den Mauern des Lagers. Wer könnte die Roma noch hören?

Am Ausgang funkelt Blaulicht. Die Polizei hat nicht nur freien Abzug garantiert, sondern sogar die Straße für den Durchgangsverkehr gesperrt. Nur, wo sollen jetzt die Menschen hin? Der Vorschlag, die ganze Nacht durch bis zum Münchner Marienplatz zu marschieren, um dort in Hungerstreik zu treten, wird nicht angenommen. Denn was passiert mit Frauen und Kindern?

Der Parkplatz vor dem KZ ist leer. Der Zug umgeht gewitzt die schwere geschlossene Schranke, und die Autos fahren hinten rum über den Fußweg an der Telefonzelle vorbei auf den geteerten Platz. Die Polizei hat keine genaueren Anweisungen, wie sie sich verhalten soll. Ein Feuer wird angezündet, ein Zelt wird errichtet. Manche Roma schlafen unter freiem Himmel übermüdet und mit dem Gefühl, so richtig überflüssig zu sein, auf irgendwo ausgebreiteten Polstern ein. Einige Deutsche werden bis zum Morgen bleiben.

Ab Mittag des folgenden Tages soll der Hungerstreik beginnen. Immer mehr Roma sind durch
die Ereignisse der letzten Tage angeschlagen und erschöpft. Das Angebot der individuellen Hilfe könnten sie sich erkaufen, wenn sie auf ihre politische Forderung „Bleiberecht für ALLE Roma“ verzichten. Schließlich geben sie auf: Busse fahren vor, der Parkplatz leert sich.

In der Rundschau des bayerischen Fernsehens um Viertel vor Sieben freut sich der sachlich berichtende Sprecher, dem es hervorragend gelingt, Informationen und Kommentar zu trennen, dass es der Zurückhaltung der Sicherheitsbehörden zu verdanken sei, dass die Roma aufgegeben haben, denn sie, die Sicherheitsbehörden, hätten die zusätzlich gesetzten Fristen immer wieder verlängert. Ein Sprecher der Kirche, dem anzumerken ist, dass er sich nicht wohlfühlt, meint verschachtelt: „Die Aktion in Dachau konnte nicht auf unabsehbare Zeit geduldet werden. Es war der erklärte Wille der Kirche, diese Aktion zu einem für die einzelnen konkret von Not betroffenen Roma hilfreichen Ende zu bringen.“ Und der Nachrichtensprecher: Die Weigerung der Roma, individuelle Hilfe anzunehmen, habe letztlich den Ausschlag gegeben, ihren Abzug zu fordern. Eigentlich logisch!

Traditionen: Man gebe dem Bettler sein individuelles Almosen. Sollte aber der Bettler fordern, dass die Ursachen einer jeglichen Bettlerexistenz beseitigt werden, muss dieses undankbare Pack verschwinden. Nur so können Wohltätigkeit und Nächstenliebe überdauern, nur so ist endlich das KZ-Gelände wieder Roma-frei und sauber.

Auf der Fahrt nach München zurück begleiten dich die dunklen verschlossenen Fenster in den Häusern links und rechts am Wegrand. Und du verstehst, was die Alten mit ihrem Ausspruch gemeint haben:

DAS LAND, DAS SEINE FREMDEN NICHT ZU SCHÜTZEN WEIß UND DAS SIE NICHT WIE GÄSTE BEHANDELT, IST ZUM UNTERGANG VERURTEILT.

Günther Gerstenberg


Flugblatt, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Flüchtlinge