Materialien 1993
Bayerisches Innenministerium droht mit gewaltsamer Räumung – Evangelische Kirche lässt Roma im Stich
Während des Kirchentages waren die Roma „gern gesehene Gäste“ der evangelischen Kirche; und die bayerische Staatsregierung hielt es nicht für angebracht, vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit Roma von einem KZ-Gelände gewaltsam zu vertreiben. Kaum war der Kirchentag vorbei, auf dem Tausende die Roma lautstark in ihrer Forderung nach Bleiberecht unterstützt hatten, drohte das bayer. Innenministerium mit polizeilicher Räumung, falls die Roma die KZ-Ge-
denkstätte nicht bis zum 20. Juni verlassen.
Die Leitung der evangelischen Landeskirche Bayern machte sich zum Sprachrohr der Staatsorgane und erklärte am 18. Juni, dass „es von staatlicher wie von kirchlicher Seite kein Recht gäbe, den Aufenthalt der Roma in der KZ-Gedenkstätte weiter zu dulden.“ … „Die Möglichkeiten der Hilfe und des Schutzes durch die Kirche sind ausgeschöpft“ … und die Forderungen der Roma nach Ab-
schiebestopp und für ein gesichertes Bleiberecht seien „aussichtslos“. Die Roma wurden von der Landeskirchenleitung aufgefordert, „das Gelände der KZ-Gedenkstätte so bald wir möglich zu verlassen“.
Trotz dieser unverhüllten Drohungen wollten sich die Roma aus Dachau nicht vertreiben lassen, denn wegzugehen bedeutet für sie Abschiebung. Abschiebung in die Verfolgerstaaten, Abschiebung in Länder, in denen Roma nicht leben können, in denen sie rassistischer Diskriminierung und Po-
gromen ausgesetzt sind. Jasar Demirov, Präsident der Roma-Union Süddeutschland, erklärte: „Wir bleiben hier – alle!“ An der Bedrohung für die Roma habe sich seit dem Kirchentag schließlich nichts geändert. „Zum Kirchentag hat man uns Roma brauchen können – jetzt hat der Mohr seine Schuldigkeit getan und wird fortgeschickt.“
Aus Protest gegen die „Rausschmisserklärung der Kirchenoberen“ besetzten am 22. Juni 15 Leute die evangelische Landeskirchenzentrale in München. Sie forderten ein Gespräch mit der Kirchen-
leitung, der „die Partnerschaft mit den Asylkillern und Abschiebeprofis in Bonn und München wichtiger ist als der Schutz des Lebens und der Menschenwürde akut bedrohter Roma". Die kirch-
lichen Würdenträger alarmierten ein polizeiliches Räumungskommando und erstatteten Strafan-
zeige wegen Hausfriedensbruch.
Am 27 . Juni kapitulierten auch der Pfarrer und der Dekan der Versöhnungskirche unter dem Druck der Kirchenleitung und kündigten den Roma ihre Solidarität auf – wenige Tage, nachdem sie sich öffentlich von den Verlautbarungen der Kirchenleitung distanziert und gefordert hatten, dass sich die Kirche „nicht zum Erfüllungsgehilfen des Staates machen darf“, sondern „moralischer Anwalt der Roma“ sein müsse. Lediglich für Einzelfallprüfungen wollen sie sich noch einsetzen; die aber verhelfen erfahrungsgemäß weder dem „geprüften“ Roma,geschweige denn dem ganzen Volk zu Recht und menschenwürdigem Leben. Dass die Roma in Dachau sich für ein gesichertes Bleibe-
recht für alle Roma einsetzen und nicht nur „humanitäre Hilfe“ für sich erwarten, will plötzlich niemand gewusst haben …
Die Situation für die Roma in der KZ-Gedenkstätte Dachau wird immer bedrohlicher. Die Kirchen-
leitung, in ständigem Gespräch mit dem Innenministerium, „erwartet“ eine Räumung in wenigen Tagen. Von den Roma erwartet sie einen freiwilligen Abzug – was einer freiwilligen Auslieferung an die Abschiebebehörden gleichkommt. Wahrlich ein christlicher Akt der Nächstenliebe.
:::
Solidaritätsschreiben der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora und Kommandos in Deutschland
Wir fordern zusammen mit den Roma, die in der KZ-Gedenkstätte Dachau Zuflucht gesucht haben, Bleiberecht und Abschiebestopp für die Menschen, die im Glauben an Demokratie und Rechtsstaat nach Deutschland gekommen sind, um Verfolgung und Elend zu entgehen.
Getreu unserem Schwur von Buchenwald stehen wir solidarisch zu Menschen jeder Nationalität oder Hautfarbe, die heute wieder Opfer des verdammenswerten Rassismus sind, hinter dem viele derjenigen stehen, die sich damals mit Hakenkreuz, Totenkopf und SS-Runen schmückten. Wenn eine Gedenkstätte wie Dachau einen aktuellen Sinn haben soll, dann als Zufluchtsort für Verfolgte, wie es im Mittelalter die Kirchen waren. Wir erwarten von der bayerischen Staatsregierung, dass sie in diesem Sinne handelt.
i.A. Emil Carlebach, 1. Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora
Roma Fluchtburg Dachau, München 1993, 24.