Materialien 1993

Dachauer Aufruf zur Solidarität

Als Hitler und seine Nazi-Büttel 1933 dieses Konzentrationslager Dachau errichteten und sofort Menschen darin einsperrten, misshandelten und töteten, hätte ein geballter Widerstand aufrech-
ter, mutiger und menschenfreundlicher deutscher Bürger die Verbrechen der zwölf darauffol-
genden Jahre des „Dritten Reichs“ wahrscheinlich verhindern können: Den Holocaust an sechs Millionen Juden, die Massenmorde an Millionen polnischer Zivilisten und ungezählten russischen Kriegsgefangenen, das massenhafte Abschlachten von Pfarrern, politischen Gegnern aus vielen Ländern Europas, Homosexuellen, Bibelforschern, sogenannten Asozialen und den Holocaust an 500.000 Zigeunern.

Wenn die Deutschen diesen von den Nationalsozialisten lautstark angekündigten Schwerstver-
brechen von Anfang an Einhalt geboten hätten, dann wäre der Welt klar geworden, dass wir ein Volk sein wollen, das Würde und Anstand besitzt.

95 Prozent der von deutschen Massenmördern vernichteten Zigeuner waren Roma aus Ost- und Südosteuropa. Trotz aller Mahnungen der Überlebenden „Nie wieder!“ forderte schon im Sommer 1945 eine große Zahl deutscher Bürger einen Schlußstrich unter die furchtbare Zeit der Haken-
kreuze. Und konsequent haben alle bisherigen Regierungen, fast alle Medien, die Justiz, die Wis-
senschaften und Kirchen die Wahrheit über die unvorstellbaren Verbrechen an den Roma aus dem Osten totgeschwiegen und unterdrückt. Der Eiserne Vorhang und das Londoner Schuldenabkom-
men waren dabei sehr behilflich.

Unter dem Eindruck der Nazi-Herrschaft und der deutschen Emigration verankerten die Väter des Grundgesetzes den Art 16 in weiser Voraussicht als Grundrecht. Bis vor kurzem war er nur Zierde. Heute, wo wir diesen Artikel brauchen, beeilen sich unsere Politiker, ihn abzuschaffen.

Die deutschen Sinti sind seit mehr als 600 Jahren in unserem Land beheimatet – hier und sonst nirgendwo. Die deutschen Roma leben seit der Abschaffung der Zigeuner-Sklaverei auf dem Balkan, besonders in Rumänien, um 1850 sowie seit ihrer Entwurzelung durch den Holocaust in Deutschland. Ebenso an eine Region oder ein Land gebunden sind seit vielen Jahrhunderten die osteuropäischen Roma. Sie verließen ihr Land kaum, es sei denn, sie wurden vertrieben.

Wie sehr unsere Politiker das Volk der Zigeuner, das vor wenigen Jahrzehnten im Namen des deut-
schen Volkes zum Tode verurteilt war, missachten und verhöhnen, zeigt der eben vom Auswärtigen Amt in Bonn gefasste Beschluss, die deutschen Sinti und Roma, im Gegensatz zu den Sorben und Dänen, nicht zur bevorstehenden KSZE-Tagung „Fragen nationaler Minderheiten – Positive Er-
gebnisse“ in Warschau zuzulassen.

An diesem unverschämten politischen Handstreich kann man ermessen, mit welcher Ignoranz und Bösartigkeit viele unserer verantwortlichen Politiker, Richter und Verwaltungsleute mit den exi-
stenzbedrohenden Problemen von Roma-Flüchtlingen umgehen.

Es reicht nicht, deutsches Volk, dass wir uns dessen schämen, wir müssen uns darüber aufregen und dagegen aufbegehren!

Seit 19 Tagen protestiere ich mit einem Hungerstreik gegen die Missachtung, Diskriminierung und schändliche Behandlung des Volkes der Zigeuner in „diesem unserem Lande“. Die körperlichen Strapazen des Hungers ertrage ich leicht. Ich ehre damit die Abertausende von Roma und Sinti,
die deutsche Schwerverbrecher zum Hungertod gezwungen haben. Sehr schwer auszuhalten sind
die seelischen Leiden, die ich in den vergangenen zwei Jahren fast ununterbrochener Arbeit für Flüchtlinge zu ertragen hatte, und die seit meinem Aufenthalt an dem schrecklichsten deutschen Ort des Grauens und der Schande, Auschwitz, fast unerträglich wurden. In Auschwitz begann ich meinen Hungerprotest. Wo ich ihn beenden werde, lasse ich offen …

Hier in der Stadt Dachau, die unter unserer noch völlig unbewältigten Vergangenheit mehr zu leiden hat als andere Orte Europas, das von vielen hundert Konzentrationslagern übersät war, rufe ich auf zu Solidarität.

Ich fordere alle deutschen Sinti und Roma (zum immer wiederholten Male) auf, sich mit den Roma anderer Länder zusammenzutun. Behandelt die Roma im Osten und aus dem Osten nicht so ver-
ächtlich wie viele Wessis die Ossis behandeln. Ihr seid ein Volk! Gemeinsam seid Ihr stark – vor allem auch bei internationalen Organisationen, wie Europa- und UNO-Behörden. Solange Ihr gleichgültig seid gegenüber den großen Problemen Eurer Brüder und Schwestern aus dem Osten, solange verfahren die Mächtigen mit Euch nicht viel anders, als sie mit diesen umgehen.

Ich fordere alle mit Flüchtlingen arbeitenden Menschen auf, bei Hilfestellungen für Roma alle be-
fassten Behörden eindringlich auf den Holocaust an den Zigeunern aufmerksam zu machen. Die Scham- und Schmerzgrenze kann dabei nicht hoch genug angelegt werden.

Ich fordere alle Geistlichen auf, ihre Stimme für die Roma zu erheben. Auch unsere mächtigen Kirchen haben noch ein großes Schuldkonto aus dem „Dritten Reich“ zu begleichen.

Ich fordere alle Intellektuellen und Künstler auf, endlich etwas dagegen zu tun, dass der Ruf unseres „Volkes der Dichter und Denker“ nicht schon wieder unerträglich beschmutzt wird.

Ich fordere alle Medien auf, die Wahrheit zu berichten. Und die besteht nicht nur aus bettelnden und stehlenden Roma, sondern in weit größerem Ausmaß aus Menschen, die von Angst, Verzweif-
lung, Not und Elend geplagt sind. Und auch der Holocaust an fast einer halben Million Roma ge-
hört zu dieser noch immer aktuellen Wahrheit.

Ich fordere alle Gleichgültigen auf – ach, es sind so viele! – endlich wach zu werden. Gleichgültig-
keit wird leicht Schuld.

Ich fordere alle deutschen Politiker auf, dafür zu sorgen, dass der Völkermord, mit dem Deutsche die Zigeuner ausrotten wollten und dabei 500.000 dieser Menschen ermordeten – aus rassischen Gründen – endlich in diesem Land öffentlich diskutiert wird.

Außerdem fordere ich alle deutschen Politiker auf, die Probleme Asyl suchender Roma so zu be-
handeln, dass diese ungeheuerlichen deutschen Verbrechen endlich gesühnt werden. Dazu gehört auch, die Roma in Ost- und Südosteuropa und ihre Verbände politisch und finanziell zu unterstüt-
zen, damit sie selbst ihre Probleme bewältigen können, und gleichzeitig zu garantieren, dass die Roma sich überall in Europa niederlassen können, gemäß dem mahnenden Wort von Yehudi Menuhin: „Europa ist erst dann zivilisiert, wenn ein Zigeuner von Istanbul nach Dublin reisen kann, ohne dabei ständig schikaniert zu werden.“

Ich wünsche allen Mut und Kraft, als Kinder der Täter und der Gleichgültigen, den Kindern der Opfer die Gerechtigkeit und Fürsorge zu geben, die sie verdienen und die wir ihnen schuldig sind.

Dachau, am 16. Mai 1993
im Jahr der 60. Wiederkehr der Errichtung des KZ Dachau

Anita Geigges

Mitglied des Verbandes deutscher Schriftsteller und des ROMANI-P.E.N.-Club
Kulturpreisträgerin der ROMANI UNION

Am 19. Tag ihres Hungerstreiks für die Rechte der Roma


Roma Fluchtburg Dachau, München 1993, 21 f.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Flüchtlinge