Materialien 1993

Die Toten geben uns Schutz

Jasar Demirov, Präsident der Roma-Union Süddeutschland, zur Zeit in der KZ-Gedenkstätte Dachau, gab der Süddeutschen Zeitung ein Interview, das am 19. Juni in der SZ erschien. Wir drucken es im folgenden leicht gekürzt ab:

Auf einem Ihrer Spruchbänder steht „Früher vergast – heute abgeschoben“. Ist das denn ver-
gleichbar?

Demirov:

Wenn die Menschen hier abgeschoben werden, wissen sie, dass sie in ihrer Heimat, im ehemaligen Jugoslawien, misshandelt oder gar umgebracht werden.

Erst vor gut zwei Monaten kam es zu einem Massaker in einem Roma-Dorf zwischen Kroatien und Serbien. Nur davon nimmt niemand Notiz, weil die Roma dort Moslems sind. Keiner berichtet da-
von, dass Roma umgebracht werden. Dabei waren wir es, die als erste die Gewalt zu spüren beka-
men – noch bevor der Bürgerkrieg erkennbar für die Weltöffentlichkeit ausgebrochen war.

Besteht nicht die Zusage der Bundesregierung, dass niemand ins Bürgerkriegsgebiet zurückge-
schickt wird?

Demirov:

Es geht uns hier in erster Linie um die Roma aus Mazedonien, das nach dem Zerfall des ehema-
ligen Jugoslawien keine Minderheiten – also Türken, Albaner und Roma – im Land dulden will.
Wir Roma sind dort jetzt Freiwild. Jeder kann uns auf offener Straße schlagen oder ins Gesicht spucken, und wehe, ein Roma wehrt sich, dann sind ihm bis zu zwölf Monate Zwangsarbeit sicher.

In Mazedonien gibt jetzt die VMRO-Partei den Ton an. Das ist eine Nazipartei, die uns nicht als Menschen akzeptiert.

In den Augen der Bundesregierung gilt Mazedonien nicht als Krisengebiet …

Demirov:

Ich bitte die Politiker, nicht nur dazusitzen und zu diskutieren, sondern einmal mit offenen Augen die dortige Situation so zu sehen, wie sie ist. Die Roma leben in ständiger Angst. Davon erfahren die Herrn Politiker aber nichts, wenn sie nur mit ihren mazedonischen Kollegen am Cafétisch sitzen und ihre Informationen von den offiziellen Vertretungen einholen.

Was sind konkret Ihre Forderungen?

Demirov:

Wir appellieren an die politisch Verantwortlichen, den bereits in der Bundesrepublik weilenden Roma ein Bleiberecht zu gewähren und die aus dem ehemaligen Jugoslawien geflüchteten Roma als Kriegsflüchtlinge zu behandeln. Auch sollte die Bundesrepublik Deutschland Länder wie die ehemalige Tschechoslowakei, Polen, Rumänien oder Bulgarien nicht mehr finanziell unterstützen, solange dort Roma diskriminiert oder gar verfolgt werden.

Was verbinden Sie mit Dachau? Wird hier nicht eine Gedenkstätte für aktuelle politische Zwecke missbraucht?

Demirov:

Im KZ Dachau sind viele Roma umgebracht worden. Für uns ist es ein Symbol. Jetzt bietet es uns Schutz. Die hier Umgebrachten werden uns Schutz senden.


Roma Fluchtburg Dachau, München 1993, 9.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Flüchtlinge