Materialien 1993
Roma-Fluchtburg Dachau
Seit dem 16. Mai protestieren in der KZ-Gedenkstätte Dachau Roma-Familien gegen ihre drohende Abschiebung.
Die Roma kamen – ausgelöst durch den Hungerstreik der deutschen Schriftstellerin Anita Geigges – und fanden Zuflucht in der evangelischen Versöhnungskirche auf dem ehemaligen KZ-Gelände.
Inzwischen sind es mehr als 200 Roma, die in Zelten rund um die katholische Heilig-Blut-Kapelle zumindest vorübergehend Sicherheit vor den drohenden Abschiebungen gefunden haben und für gesichertes Bleiberecht für sich und alle anderen Roma kämpfen. Die Roma sind entschlossen, so-
lange sie nicht gewaltsam vertrieben werden, in Dachau zu bleiben.
Kurz vor und während des Evangelischen Kirchentages hielt die Bayerische Staatsregierung es nicht für angebracht, einzugreifen und vor den Augen der internationalen Öffentlichkeit Roma von einem KZ-Gelände zu deportieren. Inzwischen kommen von der bayerischen Staatsregierung, die die Anwesenheit der Roma in Dachau nicht länger dulden will, massive Drohungen.
„Alle Zelte innerhalb der Gedenkstätte sind umgehend abzubauen“, erklärte das bayerische Kul-
tusministerium bereits am 7. Juni. In einem Gespräch mit der Kirchenleitung am 15. Juni drohten Kultus- und Innenministerium die polizeiliche Räumung an, falls die Roma ihre Fluchtburg nicht innerhalb der kommenden Woche verlassen.
Seit dem 16. Mai werden die Romafamilien in der KZ-Gedenkstätte Dachau vom Pfarrer und den Diakonen der evangelischen Versöhnungskirche, vom AK Asyl Dachau, von der Gruppe „Aktion Zuflucht“ (Stuttgart, Reutlingen) und vom Münchner Bündnis gegen Rassismus betreut und ver-
sorgt: mit Lebensmitteln, mit Schlafsäcken und Decken, mit Kinderspielzeug und Schulunterricht. Die medizinische Betreuung wird gewährleistet. Nicht nur aus München, auch aus anderen Städten kommen Spenden und Solidaritätsadressen.
Nach einer Woche wurde ein Bauwagen als „Zigeunerbüro“ mit Telefon und Computer eingerich-
tet, Toiletten- und Duschcontainer wurden aufgestellt. Das Studentenwerk der Münchner Univer-
sität liefert mehrmals in der Woche warmes Essen, ebenso einige Kneipenwirte.
Schlaglichter
27. Mai: Von Maulbronn kommt die Nachricht, dass eine Roma-Familie mit drei kleinen Kindern von der Polizei verhaftet wurde. Sie wurden überraschend von Stuttgart aus nach Skopje geflogen. Die Abschiebung kommt für alle, auch für den Rechtsanwalt, völlig unerwartet, da noch ein Antrag beim Gericht lief und das Landratsamt erklärt hatte, dass eine baldige Abschiebung nicht anstehen würde, da die Pässe nicht vorliegen. Nach dieser Provokation suchen immer mehr Roma-Flüchtlin-
ge Sicherheit in der Fluchtburg Dachau.
28. Mai: Elisabeth Köhler (Grüne) bringt im Bayerischen Landtag, im nahezu leeren Plenarsaal, einen Dringlichkeitsantrag „Abschiebestopp für Roma“ ein. Als einzige Rednerin spricht dazu die SPD-Abgeordnete Haas. Als Elisabeth Köhler wegen der Bedeutung der Sache namentliche Ab-
stimmung fordert, füllt sich der Saal. Der Antrag wird abgelehnt. Ohne Übergang ging es zum nächsten Dringlichkeitsantrag, diesmal vor vollem Haus: Sperrzeitenregelung für Biergärten.
30. Mai: Hans-Jochen Vogel (SPD) besucht die Fluchtburg. Die Forderung der Roma nach einem Bleiberecht für alle, will er nicht unterstützen. Die Roma fragen sich, warum er überhaupt gekom-
men ist.
Roma Fluchtburg Dachau, München 1993, 7 f.