Materialien 2002
Brief an einen Piloten
von Uri Avnery (Gush Shalom, israelische Friedensgruppe), am 24.8.2002
Ich habe das Interview, das Dein Kommandeur, Generalmajor Dan Halutz, gegeben hat, gelesen und wie viele andere in Israel und im Ausland war ich schockiert.
Am 23. Juli warf einer Deiner Kameraden (vielleicht Du selbst?) eine 1-Tonnen-Bombe auf ein Haus in einer dichtbesiedelten Wohngegend in Gaza ab. So sollte Salah Shehadeh, ein Hamas-Aktivist, ohne Gerichtsverhandlung exekutiert werden. Außer ihm wurden noch 16 Nachbarn, darunter 11 Kinder, getötet. Zig andere, Männer, Frauen und Kinder wurden verwundet.
Sicherlich hast Du in der Schule das berühmte Gedicht unseres Nationaldichters Bialik gelernt: „Nicht einmal der Teufel gelang es, die Rache eines Kindes zu erfinden.“ Ich nehme an, dass Du nach dieser Tat von Zweifeln geplagt bist und Du Deine Kinder anschaust und Dir sagst: „Kinder sind Kinder. Und ihre Kinder sollen für diese Situation verantwortlich sein?“
Und da erscheint nun Dein Kommandeur und sagt, Du hättest keine Gewissensbisse, nicht die ge-
ringsten. Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sagt oder ob er Dich verleumdet. Der General behaup-
tet, dass er Dir gesagt habe, „Sie haben den Vollstreckungsauftrag hervorragend erledigt … Sie haben genau das ausgeführt, was Ihnen aufgetragen worden war … Sie sind keinen Millimeter nach rechts oder nach links abgewichen. Sie haben keine Probleme“.
Jene, die mit dieser Tat Probleme haben und dagegen protestieren, (dazu gehöre auch ich) nennt der General „Heulsusen … eine unbedeutende wild schreiende Minderheit“. Er beschuldigt uns „der versuchten Erpressung der Kämpfer im Mafia-Stil … Verrat ist verboten … es muss sich doch im Gesetz ein Paragraph finden lassen, um sie in Israel vor ein Gericht zu bringen … (das) erinnert mich an dunkle Zeiten für das jüdische Volk, als eine Minderheit unter uns andere Juden denun-
zierte“. Er missbilligte auch die Besessenheit einiger Journalisten, „… sie haben Langeweile … also stürzen sie sich darauf“.
Diese extremen Äußerungen zeugen nicht von großer Geistesruhe des Generals, der behauptet, er habe „ein tiefes Empfinden für Gerechtigkeit und Moral“. Ich würde eher sagen, dass auf dem Kopf des Generals die blaue Mütze brennt (dies ist eine Anspielung Uri Avnerys auf die jüdische Redens-
art, „der Hut auf dem Kopf des Diebes brennt“, d.h. er verrät sich durch sein Benehmen). Jedes seiner Worte verrät seine Hysterie.
So ein Stil verursacht tiefe Besorgnis. Solche Worte, ausgesprochen von einem General in Argenti-
nien oder in Chile während der Militärdiktatur oder von einem türkischen Offizier während des Umsturzes der Zivilregierung, hätten natürlich geklungen. Wenn jedoch ein israelischer General diese Worte gegen die Medien und gegen die Zivilgesellschaft benützt, dann muss ein rotes Warn-
licht aufflammen, um so mehr, als er nicht sofort vom Dienst suspendiert, sondern belobigt wurde.
Israels Demokratie verliert an Höhe.
Ich möchte jedoch nicht mit Dir über Dan Halutz sprechen, sondern über Dich.
Wer bist Du? Was machst Du?
Einer der Piloten erklärte dem Interviewer Vered Levy-Barzilai: „(Das) ist die Einzigartigkeit und die Schönheit der Welt des Piloten. Du sitzt da oben, ruhig, umgeben von der Weite des Raumes, kein Lärm, kein Dröhnen, kein Geschrei. Nur das Ziel zählt. Der Dreck und der Schrecken des Schlachtfeldes gehen dich nichts an. Du ziehst deine Sache durch und fliegst nach Hause.“
Dan Halutz beschreibt seine Gefühle so: „Wenn Sie wirklich wissen wollen, was ich fühle, wenn ich eine Bombe auslöse, dann sage ich Ihnen: ich spüre einen leichten Schlag gegen die Maschine, wenn ich die Bombe ausklinke. Eine Sekunde später ist es vorbei – das ist alles. Das ist es, was ich fühle.“
„Das ist alles.“ Unten geschehen schreckliche Dinge, verstümmelte Körper wirbeln durch die Luft, verwundete menschliche Wesen winden sich vor Schmerz, unter Trümmern stöhnen Menschen ihren letzten Atemzug, Frauen kreischen über den toten Körpern ihrer Kinder, eine Szene aus der Hölle, genau so wie die Szenerie eines Bombenselbstmordattentats – „das ist alles.“ Ein leichter Schlag gegen die Maschine und dann ab nach Hause, unter die warme Dusche und ins Bett.
Ich muss gestehen, dass es mir schwer fällt, mir diese Art der Erfahrung vorzustellen. Ich war im Krieg in der Infanterie, ich konnte sehen, auf wen ich zielte und wer auf mich schoss; ich konnte jeden Augenblick verwundet werden (und wurde es auch) oder getötet. Es ist schwierig, sich vor-
zustellen, wie es jemandem da oben am Himmel zu Mute ist, der Tod sät und Verwüstung, ohne selbst je in Gefahr zu geraten.
Wird dieser Pilot – wirst Du – von Zweifeln geplagt? Quält er sich manchmal? Fragt er sich, ob eine bestimmte Handlung erlaubt, moralisch oder richtig ist? Oder wird er – wirst Du – zum Roboter, zum Profi, der stolz ist, auf seine perfekte Kontrolle über die furchtbare Todesmaschine, die man ihm anvertraut hat, und auf die „präzise“ Ausführung seiner Befehle?
Ich weiß, nicht alle Piloten sind Roboter. Ich habe immer noch Oberst Yig’al Shohat vor meinem geistigen Auge, wie er mit vor Erregung zitternder Stimme seinen Pilotenkameraden und Air For-
ce-Flugschülern den historischen Aufruf zur Verweigerung offenkundig ungesetzlicher Befehle vorträgt. Genau solcher Befehle wie jetzt in Gaza. Shohat, ein Kriegsheld, der über Ägypten abge-
schossen wurde und dessen Bein ein ägyptischer Chirurg amputierte, ist das genaue Gegenteil von Halutz.
Du musst dich entscheiden, ob Du ein menschliches, mitfühlendes Wesen wie Shohat sein möch-
test, oder ein Roboter wie Halutz, der einen leichten Schlag spürt, während er Dutzende Menschen tötet.
Die Regeln des Krieges wurden nach dem Dreißigjährigen Krieg festgelegt, einem der schrecklich-
sten Kriege in der Geschichte Europas, ein Massensterben, das ein Drittel der deutschen Nation auslöschte und zwei Drittel Deutschlands verwüstete. Die internationalen Konventionen basieren auf der Überzeugung, dass auch in einem Krieg, in dem jede Seite um ihr Überleben kämpft, die Gebote der menschlichen Moral eingehalten werden müssen.
Mach’ es Dir nicht leicht, indem Du Dir Halutzs primitive Schlagworte zu eigen machst, der alles rechtfertigt, indem er behauptet, Shehadeh sei die „Inkarnation des Bösen“, und damit auch sein ultra-rechtes Weltbild preisgibt. Shehadeh wurde nicht vor ein Gericht gestellt. Es gab keine Be-
weise für das, wofür man ihn beschuldigte. Er glaubte, dass er seinem Volk diente, genauso wie
Du glaubst, dass Du Deinem dienst. Aber auch wenn man bewiesen hätte, dass er ein gefährlicher Feind war, so rechtfertigt das nicht das Töten seiner Nachbarn.
Das Argument, dass dieser Massenmord den Tod von Juden verhindert hat, ist nicht stichhaltig. Als der Pilot die Bombe ausklinkte, wusste er, dass er mit Sicherheit viele Menschen töten würde, während es lediglich eine Annahme war, dass Shehadeh hätte töten können. Andererseits war es sicher, dass dieses Töten zu Racheakten führen würde, und dass dafür viel jüdischen Blut fließen würde. Darüber hinaus ist es ein himmelweiter Unterschied, ob eine Guerilla-Gruppe oder eine mächtige Armee im Namen eines Staates handeln.
Hättest Du unter diesen Umständen zu Deinem Kommandeur gesagt, „Ich verweigere die Ausfüh-
rung dieses Befehls, weil er offenkundig ungesetzlich ist“? Das israelische Recht und die mensch-
liche Moral verpflichten Dich, dies zu tun. Aber Dan Halutz sagt, „die Weigerung, einen Angriff zu fliegen, ist nicht Bestandteil meiner Spielregeln“.
Was sind Deine Spielregeln?
Übersetzung: Munich American Peace Committee (http://www.mapc-web.de)
Verantw. i.S.d.P.: Vera Rossner, c/o Friedensbüro e.V., Isabellastr. 6, 80798 München
Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung