Materialien 1977

Andreas Kraus: Zurück in die Provinz

„… doch sie sehen die Geschichte nicht von Bayern aus“.
A. Kraus gegen mittelalterliche Schriftsteller

Für den Lehrkörper des Bereiches Universitäts- und Bildungsgeschichte ist die Berufungsfrage beim Lehrstuhl für bayerische Landesgeschichte auf einen einfachen Nenner zu bringen: „Für uns ist Kraus der wissenschaftlich qualifizierteste Anwärter.“

Die unmaßgebliche Meinung einer Spezies von Historikern, für die sich Geschichte auf die Gehirn-
tätigkeit einiger dahingegangener Individuen beschränkt, wäre nicht weiter erwähnenswert, hätte nicht Kultusminister Maier, gestützt auf deren Sondervotum, entgegen einem Senatsbeschluss besagten Kraus als Nachfolger Bosls berufen.

Karl Bosl, der als Historiker weit über die Grenzen der BRD hinaus (auch im sozialistischen Aus-
land) hohes Ansehen genießt, wurde in den vergangenen Jahren von den traditionellen Ereignis-Chronikern vor allem Bayerns angegriffen, die in seiner Konzeption einer Geschichte der Gesell-
schaft (die eben die Geschichte der unterdrückten Klassen nicht ausschließt) nicht zuletzt eine politische Gefahr sehen: Wenn Geschichte gesellschaftliche Gegensätze, Kämpfe, in Auseinander-
setzung errungene Entwicklungen aufzeigt, wie soll sie dann noch zur „Integration des Einzelnen in die Gesellschaft beitragen“, wie Nipperdey das Problem „zögernd, ambivalent“, aber eben doch formuliert (Wozu noch Geschichte, in: Herderbücherei 8, S. 55).

So kam Herrn Maier das Sondervotum aus der Ainmillerstraße gerade recht. Kraus, der sich mit einer Reihe Arbeiten über des bayerische Geschichtsverständnis des 18. Jahrhunderts einen Na-
men gemacht hat (Pater Roman Zirngibel von St. Emmeran, 1956; Die bayer. Historiographie 1759, 1958; Die historischen Forschungen an der Churbayerischen Akademie der Wissenschaften, 1959; Vernunft und Geschichte, Bedeutung der Deutschen Akademie der Wissenschaften für die Ent-
wicklung der Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert), wird nicht nur einen unliebsamen Wissenschaftszweig an der LMU liquidieren und sich stattdessen mit Laetitia Boehms bildungs-
geschichtlichem Seminar auf die Füße treten, sondern auch politische Voraussetzungen und Er-
fahrungen mitbringen, die zu einer Zeit wachsendem Aufmuckens der Studenten durchaus von Vorteil sein könnten.

Der Sinn von Geschichte und der Beschäftigung mit derselben ist von Kraus auf einen ebenso ein-
fachen wie bekannten Nenner gebracht: „Ohne die gemeinschaftsbildende und gemeinschaftser-
haltende Kraft, die aus der Kenntnis des gemeinsamen Weges durch die Zeit fließt und die im Be-
wusstsein einer gemeinsamen Aufgabe beruht, wird der Weg in die Zukunft wie das Tasten eines Blinden.“ (Civitas regia, 1972, S. 102)

Nachdem solches klargestellt ist, kann Kraus darangehen, die Geschichte und die in ihr handeln-
den Subjekte unter seinen „gemeinschaftsbildenden“ Hut zu bringen.

Die der Aufklärung verbundenen bayerischen Historiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts be-
schimpft Kraus in einer Weise, als hätte er es mit gegenwärtigen politischen Gegnern zu tun (Deren „ganze Einstellung zur Geschichte ist so bedrückend“. Die historischen Forschungen an der Chur-
bayerischen Akademie, S. 116 ff.)

Als ernstzunehmende Historiker dieser Zeit gelten ihm Emmeraner Mönche, weil sie sich brav auf ihre Klöster beschränken, ein Schlözer kann dagegen mit seiner „Weltgeschichte“ der alles vor Krausens Richterstuhl ziehenden Kritik nicht standhalten.

Begriffe wie „verhängnisvoll, unheilvoll, tragisch, Herzensgüte, Rachsucht“ fließen aus seiner Feder wie Fassbier aus dem Bierfass, und über seinen Löffel des „höheren historischen Rechts“ barbiert er bayerische Herzöge wie deren Gegenspieler, die dann etwa zu „ruhelosen Herumtreibern und Unruhestiftern“ werden (vgl. Handbuch der Bayer. Geschichte, Bd. 2, S. 272 ff.).

Überhaupt spielt sich Geschichte nur in der näheren Umgebung des jeweils regierenden Individu-
ums bzw. in den Köpfen der Geschichtsschreiber ab. Jenseits Krausens Blickfeldes steht die „Masse als das passive, geistlose, geschichtslose, materielle Element der Geschichte“ (Marx, Die heilige Familie, MEW 2, S. 91).

So watet Kraus durch die Geschichte der Persönlichkeit, sieht welthistorische Begebenheiten, die nicht einmal den Zeitgenossen auffielen, (wofür sie von Kraus entsprechend getadelt werden, vgl. Civitas regia, S. 78 f.) und kommentiert Ereignisse im hohen Mittelalter nach der Art des Provinz-
blatt-Berichterstatters (so ähnlich: Große Ehre für unsere Stadt: der Kaiser in Regensburg!).

Neben der Tatsache, dass Kraus die „richtige“ Einstellung zur Funktion von Geschichte mitbringt, dabei unbestreitbar für die Erforschung eines Bereiches der Bildungsgeschichte des 18. Jahrhun-
derts wichtiges geleistet hat, spricht für seine Qualifikation wohl nicht unerheblich seine politische Einstellung.

Als im Juli 1969 auch Regensburgs Studenten begannen, gegen den Huber-Entwurf eines Bayer. Hochschulgesetzes aktiv vorzugehen, war für Kraus klar, dass Radikale die Revolution vorberei-
teten, die selbstverständlich mit allen Mitteln zu hintertreiben sei. Nach dem Bericht des wissen-
schaftlichen Assistenten des Lehrstuhls für Soziologie, Dr. Heinz, der einem Auftritt Krausens einmal beiwohnen durfte, spielte sich dessen Reaktion auf studentische Forderungen folgender-
maßen ab: „Nach dem Abbruch der Vorlesung durch Herrn Albrecht warteten die diskussions-
willigen Studenten auf Herrn Kraus. Dieser kam zornentbrannt auf den Hörsaal zugestürzt, informiert, dass sich etliche ‘radikale’ Studenten dort niedergelassen hatten. Mit den Worten (sinngemäß) ‘die werden wir hinaus hauen’, ‘das lassen wir uns nicht bieten’ riss er sich von Prof. Reindel los, der versuchte, den Wütenden zurückzuhalten. Als Zeuge dieser Drohung ging ich mit Herrn Daheim und Herrn Schöber hinter Herrn Kraus her in den Hörsaal, um eine gewalttätige Auseinandersetzung zu verhindern (wie vor demselben Hörsaal anlässlich der Vorlesung von Herrn Albrecht). Plötzlich zückte Herr Kraus einen Photoapparat (mit Blitzlicht) – wohl vorbe-
reitet und gut versteckt – um die ‘Eindringlinge’ erkennungsdienstlich zu behandeln. Herr Schöber rief überrascht aus (sinngemäß): ‘Herr Kraus hat einen Photoapparat dabei!’ Darauf schoss Herr Kraus auf Herrn Schöber zu – ‘Halten Sie das Maul, das geht Sie gar nichts an’ – und machte An-
stalten tätig zu werden. Darauf berechtigte Empörung der Anwesenden. Herrn Reindel gelang es schließlich, den tobenden Ordinarius für bayerische Landesgeschichte aus dem Raum zu führen, wobei Herr Kraus Herrn Schöber als ‘Faschist’ beschimpfte.“

In der Folge machte es Kraus sich zum Prinzip, jeden Studenten, der in seiner Vorlesung durch eine Zwischenfrage störte, mittels eines jederzeit verfügbaren Photoapparates dingfest zu machen und anzuzeigen.

Als schließlich die Universität Regensburg bundesweit bekannt wurde, weil dort die Wahl eines Rektors gelang, der nicht der äußersten Rechten zuzurechnen war, sah sich Kraus veranlasst, wieder einzugreifen. Als Obermair 1972 Professoren, Assistenten und Studenten die Möglichkeit gab, im offiziösen Organ der Universität Stellung zum Entwurf des BHG zu nehmen, nahm Kraus die Gelegenheit wahr, über die Stellungnahmen von Assistenten und Studenten Professor Ober-
mairs Stellung in Regensburg zu erschüttern. So schickte er am 1. Februar 1972 dem Kultusmini-
sterium die Hochschulzeitung „Informationen“ mit der Bitte, den Inhalt vor allem der Stellung-
nahmen zum BHG auf ihre Verfassungstreue zu überprüfen. Da für die Zeitung Universitätsmittel verwandt worden seien, müsse er, „Ihr sehr ergebener Andreas Kraus“, „als bayerischer Staatsbür-
ger wie als Angehöriger der Universität … gegen die Dienstpflichtverletzung des Rektors schärfste Beschwerde“ erheben.

Dass Kraus 1974 als Fachbereichssprecher der Bereiches Geschichte-Gesellschaft-Politik-Geogra-
phie versuchte, auch aktiv in die Freiheit von Forschung und Lehre anderer Wissenschaftszweige einzugreifen, verwundert nicht mehr. Nur wegen der massiven Proteste der beiden Professoren für Soziologie und Politik konnte Kraus seine Absicht nicht durchsetzen, eine Lehrveranstaltung eines Soziologieassistenten, deren Thema ihm nicht genehm war, zu verbieten.

Wenn Kraus auch in den letzten zwei Jahren auf spektakuläres Auftreten verzichtete, so dürfte sich doch inzwischen – zumal er Mitglied der CSU sein soll – an seiner Haltung gegenüber Studenten und Assistenten, die seinen Standpunkten zuwiderlaufende Formen des Lernens und Lehrens su-
chen, kaum etwas geändert haben. Abgesehen davon, dass ihm die vielgerühmte Toleranz Bosls gegenüber selbständigem Arbeiten seiner Studenten abgeht, wird gerade im Hinblick auf den Ver-
such einer Änderung der Lehrerprüfungsordnung Krausens Berufung für die Studenten bedeut-
sam: Ein Professor, dem das Ideal eines Studenten die Fakten häufende Monade ist, wird in rigi-
den Prüfungsbestimmungen immer den angemessenen Leistungsnachweis sehen.

Krausens Berufung ist also durchaus als Teil von Meiers Strategie zu erkennen, statt wissenschaft-
licher Qualifikation den ergebenen Adlaten zu wählen, um den Preis des Provinzialismus Ruhe und Ordnung zu installieren.


Arbeitsplatz Geschichte. Institutszeitung des Marxistischen Studentenbudes Spartakus/Sektion Geschichte. Extra, Januar 1977, Flugblattsammlung, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

Überraschung

Jahr: 1977
Bereich: StudentInnen