Materialien 1989

Brief an die DDR

Es ist schon merkwürdig: in der DDR findet eine Kulturrevolution statt, und schon sprechen die-
jenigen, für die Sozialismus immer ein Schimpfwort war, vom Ende des Sozialismus. Sie reden den Zusammenbruch einer Volkswirtschaft herbei, die eben noch Rang 10 der führenden Industrie-
staaten eingenommen hat, und versteifen sich auf den Nationalismus einer Wiedervereinigung Deutschlands, als wäre die DDR nun endlich reif für die Kapitulation vor dem Westen.

Ein Volk erhebt sich aber doch nicht gegen seine Obrigkeit, um sich einer anderen Obrigkeit zu unterwerfen. Wenn das Volk der DDR die gesamte Staats- und Parteiführung zum Rücktritt ge-
zwungen hat, dann doch sicher nicht deshalb, um Honecker und Krenz gegen Kohl und Genscher einzutauschen.

Was ist mit der Freiheit? Wird sie von den Demonstranten in der DDR nicht ganz anders definiert als von den westlichen Ideologen? Wer den verhassten Staatssicherheitsdienst aus seinen Ämtern jagt und dessen Mitarbeiter zu Dutzenden die Flucht in den Westen antreten lässt, für den sie sicher spioniert haben, der ruft damit ja nicht gerade den westdeutschen Verfassungsschutz, den Bundesnachrichtendienst oder den CIA herbei. Wenn das Volk Bürgerkomitees gründet, die zu-
sammen mit Staatsanwälten verhindern sollen, dass Akten verbrannt oder sonst wie beiseite ge-
schafft werden, dann nutzt es die ihm nun zugefallene Macht selbst und delegiert sie nicht an andere Herren.

Freiheit heißt ja nicht, dass man nun Bananen kaufen kann, wo es bisher keine gegeben hat. Frei-
heit heißt Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel.

Konsumfreiheit ist keine Freiheit. Wer sich von Lebensstandard und Wohlstand blenden lässt, hat schon vergessen, was Brecht mit seiner Parabel „Wenn die Haifische Menschen wären“ über die Schönheit des Lebens im Kapitalismus geschrieben hat.

Bei uns im Westen werden die kleineren Fische von den größeren gefressen, und die größeren wan-
dern wiederum ins Maul der größten und allergrößten. Die allergrößten sind jene Fische, die wir kaum noch mit Namen kennen. Wir wissen nur, dass sie Milliardäre sind und mit Hilfe ihrer Ma-
nager dafür sorgen, dass die kleinen Fische nicht aussterben.

Siebzig bis achtzig solcher Milliardäre gibt es in der Bundesrepublik Deutschland. sie besitzen die wichtigsten Produktionsmittel unserer Wirtschaft. sie haben die Verfügungsgewalt über Kultur und Gesellschaft. Sie kontrollieren die Medien, die öffentliche Meinung und den Staat. Die Politiker und ihre Parteien werden von ihnen finanziert.

Aber auch die Manager bilden eine herrschende Klasse. Was sie an Macht in Händen halten, ist fast noch größer als die Macht der Milliardäre, deren Kapital sie zu mehren haben. Sie verfügen nicht nur über die Produktionsmittel, sondern über alle Menschen, die daran arbeiten.

Wer über die Kulturrevolution in der DDR philosophiert, kann von den Haifischen des Kapitalis-
mus nicht schweigen. Sie haben lange darauf gewartet, dass die DDR wirtschaftlich zusammen-
bricht und auf ihre finanzielle Hilfe angewiesen ist.

Kredite heißt das Zauberwort. Als wäre Honecker nicht gerade deshalb in die Knie gegangen, weil ihm von Strauß ein Milliardenkredit aufs Auge gedrückt wurde! Wer der Deutschen Bank, die nicht zufällig im Jahr der Gründung des Bismarck’schen Deutschen Reiches gegründet wurde, Uneigen-
nützigkeit bei der Vergabe von Krediten unterstellt, der findet sich bald wie im Märchen von den sieben Geißlein im Bauch des bösen Wolfes wieder, der sich mit seiner Kreidestimme Einlass zum Vermögen der Werktätigen verschafft hat.

Ja , Honecker war größenwahnsinnig, als er meinte, die Volkswirtschaft der DDR müsse mit Hilfe von Westkrediten für den Weltmarkt mobil gemacht werden. Das Volk hat die Rechnung zu be-
zahlen.

Und während die Gewerkschaften in Westeuropa darüber aufgeregt diskutieren, wie sie dem Ab-
bau der Arbeitnehmerrechte begegnen sollen, der ab 1992 mit dem europäischen Binnenmarkt der Kapitalisten verbunden sein wird, präsentiert ein Kanzler Kohl seelenruhig sein 10-Punkte-Pro-
gramm zur Wiedervereinigung.

Natürlich ist ihm die Kulturrevolution schon zu weit gegangen. Das Volk soll die Macht der Straße wieder aufgeben und sie abermals delegieren an Parteien, die in der DDR bald wie Pilze aus dem Boden schießen werden – mit finanzieller Unterstützung aus dem Westen, versteht sich.

Nichts gegen freie Wahlen. Aber wir haben in Westdeutschland unsere Erfahrungen damit, wie man Wahlkämpfe in psychologische Kriegführung verwandelt; wie man mit Wahlversprechungen, die man nicht halten muss, gewinnt; wie man mit nationalistischen Tönen revanchistische Politik macht.

Ist sich das Volk in der DDR wirklich im klaren darüber, dass jede Einmischung einer westdeut-
schen Partei in die kommenden Auseinandersetzungen zwischen DDR-Parteien die Gefahr eines Krieges heraufbeschwört? Ein Bürgerkrieg wäre die blutige Folge von Illusionen, die noch bei jenem Teil des Volkes bestehen, der in der DDR für Wiedervereinigung eintritt.

Nationalismus ist keine Antwort auf unsere Probleme. In einer Zeit, in der das internationale Kapi-
tal längst Monopolcharakter besitzt und alle nationalen Grenzen überflüssig macht, wirkt der Ruf nach Wiedervereinigung ausgerechnet der DDR mit der BRD merkwürdig antiquiert. Er klingt nach den nationalen Tönen der KPD im Jahre 1952, als der Kalte Krieg in der Durchführung der Truman-Doktrin von 1947 die deutsche Spaltung längst vollzogen hatte.

Inzwischen ist die Bundesrepublik Deutschland ein hochgerüsteter Nationalstaat. Nicht einmal in einer Konföderation könnte die kleine DDR der zentralen Macht in Bonn standhalten.

Andererseits besitzt keiner unserer Politiker noch irgendwelche Glaubwürdigkeit. Zu sichtbar ge-
worden ist die Verschmelzung von Wirtschaftsinteressen mit politischen Phrasen, die Verstrickung der großen Politik mit den kleinen Geschäften. Wenn es bei uns nach 1968 noch keine weitere Kulturrevolution gegeben hat, dann nur deshalb, weil das Volk nach seinen vielen Niederlagen immer noch resigniert ist.

Unsere Spitzenpolitiker sind nicht absetzbar. Ganz gleich, ob ihre Partei eine Wahl verliert, sie bleiben über ihre sicheren Listenplätze weiter im Parlament. Mit der Wirtschaft sind sie über zahlreiche Ämter und Posten verbunden und üben Macht aus.

Da hat sich nun eine sozialdemokratische Partei in der DDR gegründet. Die SPD in Bonn unter-
stützt sie organisatorisch und finanziell. Was hat sie auf ihrem Programm? Die Wiedervereinigung Deutschlands.

Sozialdemokraten sind keine Freunde des Sozialismus. Liegt hier der historische Fehler der Kom-
munisten in der Ostzone, dass sie sich mit der SPD zur SED zwangsvereinigten?

Historische Fragen sind niemals rhetorisch gemeint. Wer heute mit dem Stalinismus abrechnet, muss auch dessen sozialdemokratische Züge erkennen. Stalin verkündete, man müsse die Men-
schen zu ihrem Glück zwingen. Sozialdemokraten wie Ebert, Scheidemann, Noske, Schumacher, Ollenhauer, Brandt, Schmidt, Rau, Lafontaine haben es ihm stets gleichgetan – wenn auch unter anderen Bedingungen.

Die SPD hat sich hierzulande immer an die Spitze von Volksbewegungen gesetzt – aber nur, um sie abzuwürgen. Sozialdemokratisch ist es, sich an die Stelle des Volkes zu setzen und in seinem Na-
men zu handeln. Sozialdemokratisch ist es, hinter verschlossenen Türen mit den Kapitalisten Ge-
schäfte zu machen. Sozialdemokratisch ist es, über den Kopf des Volkes hinweg Politik zu machen.

Wenn Kommunisten in der DDR in Ausübung ihrer Macht das Volk belogen haben, gehören sie aus dem Amt gejagt. Die Frage stellt sich aber, ob es überhaupt Kommunisten gewesen sind, die da im Namen des Kommunismus korrupte Geschäfte mit den Kapitalisten gemacht und sich dabei privat bereichert haben.

Wirkliche Kommunisten können Fehler machen. Aber sie verraten nicht ihre ldeale.

Gerechtigkeit ist ein großes Ziel. Um ihre Durchsetzung geht es in der Geschichte. Die Kulturre-
volution, die jetzt vor dem Abschluss steht, hat die sozialistische Demokratie in der DDR auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt.

Sozialistische Demokratie – nicht Wiedervereinigung! Warnt man nicht schon lauthals aus dem Westen, das DDR-Volk solle bitte keine „Selbstjustiz“ üben? Diese Töne kennen wir doch. Ist es denn Selbstjustiz, wenn das Volk Beweise sicherstellt, mit deren Hilfe es seine Unterdrücker zur Rechenschaft ziehen kann?

Aber im Westen hat man Angst: 1. dass die Geschäfte der Herrschenden mit der bisherigen DDR- Führung allzu sehr ans Licht kommen könnten; 2. dass Volkstribunale entstehen, die vor den Schuldigen im Westen natürlich nicht haltmachen würden; 3. dass das Beispiel der Kulturrevo-
lution in der DDR bei uns im Westen Schule machen könnte.

Die Wiedervereinigungskampagne aus dem Westen soll das DDR-Volk entmündigen, bevor ein Funken überschlägt.

Solange die Stalinisten im Amt waren, konnte man mit ihnen über gemeinsame Interessen reden. Man wusste, wer der Ansprechpartner war und wo ihn der Schuh drückte. Das ist jetzt anders ge-
worden. Eine Volksherrschaft, wie sie in der DDR jetzt droht, ist für die westlichen Politiker und Geschäftemacher unberechenbar – und völlig unannehmbar.

Was bedeutet es, dass an der Spitze der nun von ihrer Führungsrolle für immer entbundenen SED seit Anfang Dezember der Bürgeranwalt Gregor Gysi steht, der von sich selbst im Westfernsehen zu sagen wagt: „Ich bin Kommunist, weil ich Ideale habe“? Was bedeutet es, dass mit dem Wirt-
schaftswissenschaftler Hans Modrow ein Mann aus dem Volk die Regierungsgeschäfte übernom-
men hat, der in seiner ersten Rede vor der Volkskammer der DDR das künftige Verhältnis von Volk und Staat prinzipiell so definierte: „Für das Volk ist alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. Für den Staat ist alles verboten, was ihm nicht ausdrücklich erlaubt ist“?

Für mich wird hier die philosophische Grundlage einer sozialistischen Politik gesetzt. Ideale, die man messen kann; Demokratie im Sinne von Volksherrschaft; Freiheit, die konkrete Qualitäten aufweist.

Freilich gibt es diesen Sozialismus nicht ohne Klassenkämpfe. Das SED-Regime hatte den Klassen-
kompromiss sozialdemokratisch hergestellt. Was wird nun aus dem Klassenkompromiss, nachdem die bürgerlichen Parteien nicht mehr die Knute der SED fürchten und aus der Nationalen Front ausgebrochen sind?

Kann die DDR eine sozialistische Alternative zur BRD werden? Das hängt davon ab, wie sich in der Polarität von Volk und Staat eine sozialistische Demokratie entwickelt und entfaltet. Eine starke Interessenvertretung der Arbeiterklasse ist die Voraussetzung dafür. So wie man allen Bürgern des Staates Gewissensfreiheit zubilligen muss, so muss man den Arbeitern und Angestellten das Streik-
recht in politischen Fragen zugestehen.

Das reicht aber allein noch gar nicht aus, die werktätigen Massen davor zu schützen, allein die Fol-
gekosten einer verfehlten Wirtschaftspolitik tragen zu müssen. Man muss auch die Wirtschaft selbst auf eine gerechtere Grundlage stellen.

Bis jetzt hat der Staat bürokratisch über das abstrakte „Volkseigentum“ verfügt, das in Wirklichkeit bloß Staatseigentum ist. Eine sozialistische Demokratie muss aber ökonomisch gegründet sein auf das kollektive Eigentum an den Produktionsmitteln durch die tatsächlichen Produzenten.

Betrieb für Betrieb sollte das Eigentum an den Produktionsmitteln, sollten die Fabriken, LPG’s und Kommunikationsmittel auf die damit arbeitenden Menschen übertragen werden. Eigentum an den Produktionsmitteln verpflichtet zur Verantwortung, Arbeitsdemokratie und Solidarität. Es moti-
viert zugleich zu Leistung, Qualität und Innovation.

Wie würde das Leunawerk aussehen, wenn es endlich den Arbeitern gehört? Wie stünden die VEB’s vor dem bewusstsein des gesamten Volkes da, wenn sie endlich in den kollektiven Besitz ihrer jeweiligen Belegschaft übergegangen sind?

Der Übergang von der Verstaatlichung zur Vergesellschaftung setzt seelische Kräfte frei, die für den Marxisten zu den Produktivkräften der Wirtschaft gehören. Die Verstaatlichung beendete die Ausbeutung durch private Kapitalisten. Das war die einzige geschichtliche Leistung, die die SED auf ihr Konto buchen konnte. An der Verstaatlichung der Wirtschaft festzuhalten, würde aber auch dieses geschichtliche Kapital verlorengehen lassen, da die starre Planwirtschaft offensichtlich einer entwickelteren sozialistischen Demokratie im Wege ist. Reprivatisierung der Staatsbetriebe in Ar-
beiterhand ist genau das, was Marx und Engels sich unter einer entwickelten sozialistischen Wirt-
schaft vorgestellt haben. Sie nannten es Sozialisierung oder Vergesellschaftung.

„Ludwig Erhard hat über Karl Marx gesiegt!“ freuen sich die Ideologen des westlichen Großka-
pitals. Sie reiben sich die Hände, weil die in der Krise befindliche DDR-Wirtschaft so appetitlich aussieht.

Was werden sie sagen, wenn die DDR plötzlich die sozialistische Marktwirtschaft herstellt, die nicht mehr auf kapitalistische Devisen angewiesen ist?

Sozialisierung der Staatsbetriebe schafft neue Motivationen zu nicht entfremdeter Arbeit. Produkt-
vielfalt und innovatives Interesse könnten die Gleichförmigkeit einer genormten Wirtschaft end-
lich ablösen. Statt Planerfüllung könnte das Leitziel der Wirtschaft Überfluss heißen. Damit ist gesagt, dass Produkte entstehen können, die sich nicht absetzen lassen, weil sie von der Konkur-
renz besserer Produkte verdrängt werden.

Die Aufhebung der Entfremdung steht auf der Tagesordnung der DDR-Wirtschaft. Der voll ver-
antwortliche Produzent ist eine andere Arbeitskraft als der noch so hochbezahlte Spezialist, der nur einen Job ausübt.

Wer die Verstaatlichung gegen alle geschichtliche Vernunft nicht aufgibt, ist heute schon ein Reak-
tionär, d.h. er will nicht die Demokratie mit dem Volke teilen.

In jedem arbeitenden Menschen steckt ein Unternehmer, der sich verwirklichen muss. Man darf nicht die unternehmerische Kraft der Arbeiterklasse durch bürokratische Vorgesetzte bremsen, nur weil Unternehmer bisher bloß im Kapitalismus aufgetreten sind.

Natürlich würde der Staat durch volle Sozialisierung nicht beseitigt werden. Er muss weiterhin das Interesse des Gesamtsystems vertreten und überall dort regulierend eingreifen, wo dieses Interesse aus egoistischen Gründen gefährdet wird. Er wäre aber nicht mehr der bürokratische Gesamtka-
pitalist, der er heute noch ist. Aus der steuerlichen Abschöpfung des Mehrwertes müsste er zudem weiterhin den wirtschaftlich nicht produktiven Bereich der Gesellschaft finanzieren, zu dem z.B. der gesamte Bildungsbereich gehört.

Dies ist meine Auffassung von sozialistischer Gerechtigkeit. Das Volk würde endlich wissen, was seine Volkswirtschaft wert ist, was es sich leisten kann und was nicht. Und die Arbeiter hätten endlich etwas zu verteidigen.

Die DDR würde durch die Sozialisierung attraktiver werden als die BRD. Welcher Arbeiter kann denn bei uns davon träumen, mit seinen Kolleginnen und Kollegen zusammen einen Betrieb zu leiten? Unternehmer sein, heißt im Kapitalismus Ausbeuter sein. Wo der Profit nicht mehr in pri-
vate Taschen fließt, sondern für Innovationen im eigenen Betrieb bleibt, da lohnt es sich endlich, Arbeiter zu sein.

Natürlich fällt die Vergesellschaftung der Produktionsmittel der Arbeiterklasse in der DDR nicht kampflos in die Hände. Auch wenn die SED sie jetzt von selber wollte, sie hat nicht mehr die Macht dazu. Die bürgerliche CDU, die Bauernpartei, die kleinbürgerlichen Liberalen, die Nationaldemo-
kraten, sie reichen schon aus, die SED daran zu hindern, eine solche Vergesellschaftung durchzu-
führen.

Hans Modrow ist kein Hans im Glück. Nur wenn die Kulturrevolution in eine politisch-ökonomi-
sche Revolution der werktätigen Massen übergeht, die zur vollen Vergesellschaftung der Produk-
tionsmittel auffordert, kann der Sozialismus siegen.

München, 18.12.1989

Hans Werner Saß


Hans Werner Saß, Brief an die DDR, München 1990, 9 ff.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Internationales