Materialien 2018

Brief an Springer

Günther Gerstenberg
Gundermannstraße 34
80935 München

An Herrn
Christian Springer

8. Juni 2018

Sehr geehrter Herr Springer,

am 8. Juni sprachen Sie auf dem Jakobsplatz bei der Kundgebung gegen Antisemitismus. Als Sie dann in Ihrer Rede meinten, Antisemitismus sei rechts wie links zu verorten und dies mit dem Brandanschlag in der Reichenbachstraße verbanden, kam leider Beifall auf. Für mich ist dieser Gedankengang verantwortungslos.

1970 studierte ich an der Münchner Kunstakademie, lebte in einer Wohngemeinschaft und betei-
ligte mich an den Auseinandersetzungen nicht nur in den Hochschulen, sondern darüber hinaus in der linken Szene in München. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ohne jede Aus-
nahme eine Jede und ein Jeder in meinem Umfeld über den Brandanschlag in der Reichenbach-
straße entsetzt waren. Es war für uns – nicht wenige von uns waren militant – undenkbar, dass da jemand aus unseren Reihen dafür verantwortlich war. Schließlich hatten wir in langen Auseinan-
dersetzungen mit unserer schweigenden Elterngeneration genug über den Holocaust erfahren, wussten um die unvergleichlichen Verbrechen an den Juden, Sinti und Roma, Behinderten und politisch Andersdenkenden.

Es mag sein, dass woanders in der linken Szene nicht exakt unterschieden wurde zwischen einer Kritik am Staate Israel und rassistischem Antisemitismus. In den Kreisen, in denen ich mich in München bewegte, waren Rassismus und Antisemitismus völlig inakzeptabel. Unser Gedanken-
gang war immer: Kritik an der Politik eines Staates darf nie Kritik an einer Volksgruppe sein. Frie-
den für Jüdinnen und Juden in Israel ist nur möglich mit einem Frieden für die Palästinenser. Israel wird nur existieren können, wenn es mit den Palästinensern Frieden schließt. Wir argumen-
tierten so, weil wir FÜR das Existenzrecht Israels eintraten.

Ganz davon abgesehen: Die linke Szene in München war nicht allzu groß. Besser gesagt, sie war so übersichtlich, dass in ihr nichts verborgen bleiben konnte. Auch die staatlichen Stellen wie der Verfassungsschutz und die Abteilung der Politischen Polizei kannten unsere Strukturen sehr gut. Wenn jemand von uns den Brandanschlag verübt hätte, hätte das sehr schnell intern die Runde gemacht, und Polizei und Justiz wären sofort gegen uns aktiv geworden. Ich erinnere mich aus eigener Erfahrung, dass die Behörden damals schon Lappalien zum Anlass nahmen, um uns fest-
zunehmen und Anzeigen zu erstatten.

Ein letztes: Im Unterschied zu anderen sind Linke kraft der (egal ob falschen oder richtigen) Überzeugung, die sie zu Taten antreibt, immer motiviert, ihr Vorgehen mit einem Bekennerschrei-
ben zu begleiten. Beim Brandanschlag in der Reichenbachstraße gab es keins! Wir Linke – mich eingeschlossen – waren uns schon damals klar, dass nur ein durchgeknallter Spinner oder ein alter oder neuer Nazi den Brandanschlag durchgeführt haben konnte.

Es deprimiert mich, dass Sie dazu beitragen, ein allzu bequemes Gerücht weiter zu verbreiten und damit auch noch billigen Beifall einheimsen. Schade!

So, jetzt bin ich meinen Ärger losgeworden.
Trotzdem mit freundlichen Grüßen

P.S.: Wenn ehemalige Genossen wie z.B. Götz Aly der „Linken“ Antisemitismus attestieren, liegt das vielleicht daran, dass sie als einstige Maoisten oder KPDler damit ihr eigenes Schuldkonto abarbeiten. Auch ich habe in meiner Vergangenheit vieles falsch eingeschätzt und auch falsche Entscheidungen getroffen. Ich denke, daraus Konsequenzen zu ziehen ist die Aufgabe eines jeden Individuums. Meine eigenen Fehler auf andere zu projizieren und sie damit in Geiselhaft zu neh-
men, scheint mir aber nicht der richtige Weg zu sein.

Überraschung

Jahr: 2018
Bereich: Internationales