Flusslandschaft 2013
Armut
In Deutschland geht man nach Erhebungen für 2012 von einer Armutsrisikogrenze von 979 Euro netto monatlich für Alleinstehende und 2 056 Euro netto monatlich für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren aus. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfü-
gung hat, gilt laut EU-Definition als armutsgefährdet. Das sind im Jahr 2013 16,1 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen (EU-weite Vergleichsstatistik „Leben in Europa“, EU-SILC). Besonders gefährdet sind Alleinerziehende, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Frauen im Renten-
alter und Familien mit mehr als zwei Kindern. In den Statistiken zur Armutsgefährdung wird deut-
lich, dass gesellschaftliche Benachteiligungen das Armutsrisiko direkt erhöhen. Viele Alleinerzie-
hende leiden darunter, dass sie keine Betreuung für ihre Kinder finden und die Angebote auf dem Arbeitsmarkt wenig familienfreundlich sind. Dadurch geraten sie in eine Spirale: geringfügige Be-
schäftigung, niedriges Einkommen, Unterstützung vom Staat, mangelnde Teilhabemöglichkeiten. Besonders Frauen sind davon betroffen und aufgrund fehlender Rentenansprüche im Alter schlecht abgesichert. 6,2 Millionen Menschen beziehenen im Jahr 2013 in Deutschland Hartz IV. Ein großer Teil von ihnen ist langfristig auf diese Hilfen angewiesen: 1,8 Millionen der knapp 6,2 Millionen Leistungsberechtigten (Stand Mai 2013) bezogen nach Angaben des Instituts für Ar-
beitsmarkt und Berufsforschung (IAB) die Leistungen seit 2005 ununterbrochen. Die Hälfte von ihnen sind Angehörige, die nicht erwerbsfähig sind. Zwei Drittel aller Menschen, die Grundsiche-
rungsleistungen erhalten, beziehen diese über mehr als zwei Jahre. Dazu kommt noch die Gruppe der „verdeckt Armen“. Zu verdeckter Armut kommt es, wenn Menschen, denen Hartz IV zusteht, ihren Anspruch nicht wahrnehmen, etwa weil sie sich schämen oder nicht genau wissen, was ihnen zusteht. Das sind in Deutschland ca. 40 Prozent der Leistungsberechtigten, also ungefähr vier Mil-
lionen Menschen.
Freiheit – / Hartz IV-Empfänger sind / frei von gerechtem Lohn, / frei von Rechten, / frei von Freiheit, / frei von Frieden, / frei von Gerechtigkeit / frei von der Würde des Menschen, – / gefes-
selt in Paragraphen, / kontrollierenden Hausbesuchen, / entwürdigenden Fragen. (Wolf-Dieter Krämer am 17. August)
Die tz thematisierte am 28. November 2012 unter dem Aufmacher „Bettel-Mafia. Jetzt kommen sie sogar schon an die Tische!“ ein Ärgernis, das schon manchem aufrechten Bürger auf der Seele brennt: Die Bettelei von „Sozialschmarotzern“ werde zunehmend von gespenstischen Banden aus den Weiten Osteuropas organisiert. Gibt es „ehrliche“ Bettler und „unehrliche“? War der Fall der Mauer nicht doch ein Fehler? OB Ude schreibt auf seiner Homepage: „Die Bettler kommen straff organisiert aus südöstlichen Beitrittsländern der EU und wollen mit häufig effektvoll inszenierter Bedürftigkeit den schnellen Euro kassieren.“ Die Wut wächst. Die Anwohner und Arbeitnehmer an der Kreuzung Goethe-/Landwehrstraße „fordern, dass die aktuellen und in den letzten Wochen stetig wachsenden Probleme … endlich als solche erkannt werden … Die Kreuzung sowie anliegen-
de Gebäude und Ladengeschäfte werden mittlerweile regelmäßig belagert … Wege werden blok-
kiert, Gehsteige vermüllt, Lebensmittelreste weggeworfen, es wird gespuckt und uriniert. An eini-
gen Gebäuden treten bereits ernsthafte Probleme mit gesundheitsgefährdenden Schädlingen auf. Kundschaft wird belästigt und bleibt aus, teilweise gibt es aggressive Szenen. Diese Szenerie macht uns ein normales Wohnen und Arbeiten zunehmend unmöglich. Wir fordern, dass unsere Kreu-
zung nicht von einer solchen Szenerie immer mehr in Beschlag genommen wird … Wir weisen da-
rauf hin, dass auch wir ein Recht haben auf ein humanes und zivilisiertes Lebens- und Arbeitsum-
feld. Wir fordern koordinierte, konsequente und nachhaltige Gegenmaßnahmen sowohl im Bereich der Sozial- wie auch Polizeiarbeit.“ Geht es aber an, Bettler und Obdachlose unter Generalverdacht zu stellen? Dagegen anzuschreiben, ist nicht leicht: „Wussten Sie schon, dass in den Straßen der bayerischen Hauptstadt Politiker, Stars und Sternchen dazu auffordern, Bettler und Bettlerinnen mit Respekt zu begegnen? Popstar Lena stellt hier klar: ‚Wer Bettler anmacht, macht mich null an.‘ Und Helmut Schmid erklärt: ‚Ich habe immer etwas Geld für Kippen und Bettler dabei – Ehrensa-
che!‘. Die Prominenten werben auf den Postkarten und Aufklebern der Kampagne ‚München. Welt-
stadt mit Herz und Kleingeld‘. Scheinbar ist die Aktion jedoch ohne ihre Zustimmung geschehen. Wer da wohl dahinter steckt?“1
Bei der Bundestagswahl im Dezember ist die Wahlbeteiligung in München von Viertel zu Viertel unterschiedlich. In Stadtbezirk 11 Milbertshofen-Am Hart (höhere Arbeitslosenquote) beträgt sie 61,5 Prozent, in Pasing-Obermenzing (niedrigere Arbeitslosenquote) 75,2 Prozent. Die Bertels-
mann-Stiftung interessiert sich für die Ursachen und stellt einen Zusammenhang zwischen sozia-
lem Milieu und politischem Interesse her. Im Stadtbezirk 11 gibt es nur in 27,3 Prozent der Haus-
halte einen höheren Schulabschluss, in Pasing-Obermenzing dagegen liegt die (Fach-)Abiturnote bei 42,4 Prozent. Da stellt sich die Frage, sind die Milbertshofener eher blöder, um Politik zu be-
greifen, oder sind sie desillusioniert und denken, mit Wahlen könne man sowieso nichts ändern?
(zuletzt geändert am 29.5.2023)
1 bz. Bettelzeitung vom Winter 2013, München, https://b-art.igel-muc.de/