Flusslandschaft 2018

Wohnen


Menschen werden durch steigende Mieten verdrängt. Mietwohnungen werden in Eigentum umge-
wandelt und luxussaniert. Alteingesessene werden vertrieben und Nachbarschaften zerstört. Sozia-
le Einrichtungen und Gewerbetreibende finden keine bezahlbaren Räume mehr. Die Spekulation mit Wohn- und Lebensraum entzieht mittlerweile nicht nur den Alleinerziehenden, Pflegern, Handwerkern, Lehrern, Erziehern, Müllfahrern, Polizisten, Verkäufern, Studierenden, Familien und Rentnern die Lebensgrundlage. Das Problem ist flächendeckend in den deutschen Ballungs-
zentren und deren Umland angekommen. — Beim Ersten Münchner Mieterstammtisch werden Gegenmaßnahmen besprochen. Im Juni reift die Idee für eine Großdemonstration. Vorbild ist die Demo „#ausgehetzt“. — Insgesamt 11.000 Menschen ziehen am Samstag, 15. September, vom Maria-Hilf-Platz in der Au und vom Gewerkschaftshaus zum Siegestor und protestieren gegen den Mietenwahnsinn. Bei der Abschlusskundgebung spielen Main Concept, Roger (Blumentopf), Raggabund, G.Rag & die Landlergschwister, Lisaholic, Ecco Meineke, Münchner Kneipenchor und EinsHoch6.1

Für den 29. November planen die städtischen Behörden die Räumung von sogenannten „Camps“ obdachloser Menschen unter den Isarbrücken. Aus diesem Anlass hat eine Gruppe von Menschen, die unter der Reichenbachbrücke Schlaf- und Wohnstätten eingerichtet haben, am 25. November kollektiv eine Erklärung verfasst: „Wir fordern die Landeshauptstadt auf, die Wohnstätten von ob-
dachlosen Menschen in München nicht zu räumen. Wir wohnen derzeit lieber unter der Reichen-
bachbrücke, als dass wir in der Kälteschutzeinrichtung in der Bayernkaserne übernachten. In der Bayernkaserne müssen wir jeden Morgen das Gelände verlassen und dürfen uns tagsüber dort nicht aufhalten. Dort können wir auch unsere Sachen nicht aufbewahren, weil es keine Schränke oder Schließfächer gibt. Wir haben keine Kochmöglichkeiten. Wir können uns nicht aussuchen, mit wem wir in einem Zimmer schlafen. Oft schlafen mehrere Personen in einem Raum, die ganz un-
terschiedliche Interessen und Gewohnheiten haben, so dass es oft nicht möglich ist, zur Ruhe zu kommen. Es gibt keinerlei Privatsphäre. Regelmäßig finden in der Früh am Ausgang des Kälte-
schutzes große Polizeikontrollen statt, denen wir nicht ausweichen können, wenn wir dort geschla-
fen haben. Immer wieder werden dabei Personen verhaftet (z.B. wenn wegen mehrmaliger Nut-
zung öffentlicher Verkehrsmittel ohne gültiges Ticket ein Haftbefehl vorliegt), so dass manche Per-
sonen den Kälteschutz nicht in Anspruch nehmen, weil sie Angst haben, verhaftet zu werden. Ne-
ben dem Stopp der Räumungsvorbereitungen fordern wir deshalb eine menschenwürdige Unter-
bringung aller (unfreiwillig) Obdachlosen. Dies heißt für uns unter anderem:
– uns ganztägig und ganzjährig in den Räumlichkeiten aufhalten zu können
– Privateigentum sicher aufbewahren zu können
– Privatsphäre zu haben
– eine Kochmöglichkeit zu haben
– Zimmernachbarn wählen zu können
– dort keine Angst vor Polizeikontrollen haben zu müssen
Schon im März 2016 haben die Betroffenen gemeinsam mit anderen wohnungslosen und nicht wohnungslosen Menschen im Rahmen der „Wir wollen wohnen“-Kampagne ihren Kampf um Wohnraum lautstark auf die Straße getragen. Vieles von dem, was damals gefordert wurde, ist politisch bislang nicht umgesetzt. Die Situation am Wohnungsmarkt hat sich allerdings seitdem massiv verschärft. Es sind derzeit in München bereits über 10.000 Menschen wohnungslos, ein viel größerer Teil der Stadtbevölkerung lebt in unangemessenem, zum Teil überbelegten, gesundheits-
gefährdendem Wohnraum, um überhaupt noch die Miete aufbringen zu können. Bis in die Mittel-
schicht hinein sind Mietbelastungen von über 40 Prozent des Einkommens für viele normal gewor-
den. – Alle Proteste fruchten nichts. Die Behörden räumen am frühen Morgen des 29. November mehrere Wohnstätten obdachloser Menschen – unter anderem unter der Reichenbach- und der Wittelsbacherbrücke. Obwohl die Räumung offiziell mit der vorgeblichen Abwendung von Gefah-
ren für die dort lebenden Menschen begründet wurde, ist die Stadt mit vielen dort lebenden Men-
schen zuvor nicht in Kontakt getreten, lediglich Räumungsankündigungen wurden ausgehängt. Als etwa um 7 Uhr die Angestellten der städtischen Behörden in Begleitung der Polizei anrücken, tref-
fen sie schon auf einige Protestierende, die sich mit den Menschen, welche unter den Brücken Schlafplätze und Wohnstätten eingerichtet haben, solidarisieren. Die Polizei, die mit einem Aufge-
bot von teilweise sechs Einsatzwägen— bzw. Minibussen die Räumungen seit 6.30 Uhr vorbereitete und später absicherte, spricht zu Beginn der ersten Räumung mündliche Platzverweise aus gegen-
über Personen, welche das Geschehen beobachten und dokumentieren wollen. Die städtischen Be-
hörden sind mit der Räumung unter der Reichenbachbrücke schon vor 8 Uhr fertig und beginnen dann mit der Räumung unter der Wittelsbacherbrücke. Dort haben fünf bis sechs Personen über-
nachtet, die sich gezwungen sehen, ihre wichtigsten persönlichen Sachen zusammenzupacken und ihre Wohnstätte zu verlassen. Ein Großteil der Einrichtungsgegenstände und des Mobiliars wird im Zuge der Räumung in Containern abtransportiert. Ab 8 Uhr versammeln sich zeitweise bis zu etwa 60 Menschen, unter ihnen 15 obdachlose Personen von der Reichenbachbrücke, deren Eigentum gerade zerstört und geräumt worden ist. Sie fordern den sofortigen Stopp der Räumung und men-
schenwürdigen Wohnraum für alle unter dem Motto  „Armut bekämpfen, nicht Arme“. Um etwa 9.30 Uhr entscheiden die Protestierenden, spontan und lautstark mit ca. 30 Personen zum Amt für Wohnen und Migration zu demonstrieren. Vor dem Amtsgebäude in der Franziskanerstraße findet von ca. 10 bis 12 Uhr eine neuerliche Kundgebung statt. Nach den Redebeiträgen werden noch fünf der obdachlosen Protestierenden zusammen mit zwei Unterstützer*innen zu ein Gespräch mit dem Amtsleiter vorgelassen. Aus Sicht der Kampagne WirwollenWohnen ist es nicht hinnehmbar, Men-
schen in extrem prekären Lebenslagen mit staatlicher Repression zu begegnen. Mit den heutigen Räumungen verlieren die Betroffenen im Rahmen ihrer extrem marginalisierten Lebensumstände sogar noch die relative Sicherheit selbstgewählt gemeinsamer und halbwegs trockener Schlaf- und Wohnplätze, an denen sie sich die notwendigste Infrastruktur zusammengebastelt haben. Vasil Damyanov (25) sagt: „Es ist Teil meines Lebens geworden dafür zu kämpfen, dass ich wie andere auch in einer menschenwürdigen Unterbringung leben kann. Ich möchte genauso leben wie andere auch, in einer ruhigen Atmosphäre und in einer normalen Wohnung, wie es für die meisten Bürger dieser Stadt normal ist. Das ist mein größter Wunsch, und der Wunsch aller, die hier protestieren. Wir sind gezwungen, ständig umzuziehen, müssen tagsüber und nachts immer den Ort wechseln. Ich will, dass das bald vorbei ist. Ich will endlich mein noch junges Leben in einer würdigen Form weiterleben.“ Pauline Wagner von der Initiative Zivilcourage, welche den WirWollenWohnen-Pro-
test unterstützt, erklärt: „Wir werden weiterhin Wohnraum für alle fordern und gegen die repressi-
ve und rassistische Vertreibung der Armen aus dem städtischen Raum eintreten. Danke an alle, die an den heutigen Aktionen teilgenommen und sich mit den von der Räumung betroffenen Men-
schen und ihren Forderungen solidarisiert haben!“2

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Winter im Tal

(zuletzt geändert am 28.3.2020)


1 Siehe die Bilder der Demonstration „# ausspekuliert“ von Franz Gans.

2 Siehe http://inizivi.antira.info/2018/11/29/protest-gegen-raumung-der-wohnstatten-obdachloser-menschen-am-29-11-2018/?fbclid=IwAR21IS02N6HJKSAJ3ISsqJK8mUlQUZ0OY_0YEstxS2LBy99MdECg9inrZLY

3 Foto © Volker Derlath

Überraschung

Jahr: 2018
Bereich: Wohnen