Flusslandschaft 1972

Schwule/Lesben

Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB-Deutschland) existiert vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1969 bestraft er auch die „widerna-
türliche Unzucht mit Tieren“ (ab 1935 nach § 175b ausgelagert). Insgesamt werden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. – Im Jahre 1949 wurden die § 175 und 175a in der Fassung von 1935 offiziell übernommen. Zwar wurde 1955 eine Verfassungsbe-
schwerde dagegen eingereicht, das Bundesverfassungsgericht aber wies am 10. Mai 1957 die Be-
schwerde zurück; die Fassung von 1935 sei kein nationalsozialistisch geprägtes Recht. (Erst am 7. Dezember 2000 stuft der Deutsche Bundestag in einer einstimmig gefassten Entscheidung die 1935 erfolgte Verschärfung des § 175 RStGB als „Ausdruck typisch nationalsozialistischen Gedan-
kengutes“ ein.) Verkündung des 1. StrRG am 25. Juni 1969, das am 1. September 1969 inkrafttritt: Sexuelle Handlungen sind nur noch strafbar bei Erwachsenen mit unter Einundzwanzigjährigen, bei Prostitution und verschiedenen Autoritätsverhältnissen. Die Änderung führt jedoch zu merk-
würdigen Fallgruppen: Sind beide über 21 (Alter der Volljährigkeit) oder unter 18 Jahre alt, so ist gleichgeschlechtlicher Sex straffrei. Ist einer über 21, der andere unter 21 Jahre, so wird nur der Ältere bestraft. Sind beide zwischen 18 und 21 Jahre alt, so machen sie sich jedoch beide strafbar. Das Gericht kann für unter Einundzwanzigjährige von einer Strafe absehen, was die Lage ent-
schärft.

Manche Schwule bemühten sich seit Ende der 60er Jahre, als Mitglieder linker und alternativer Gruppen diese zu solidarischem Verhalten zu bewegen. Die Antwort auf dieses Ansinnen lautete generell: „Die Diskriminierung der Schwulen ist nur ein Aspekt in der Klassengesellschaft. Ähnlich wie bei der Unterdrückung der Frau handelt es sich lediglich um einen Nebenwiderspruch. Mit der Auflösung des Grundwiderspruchs nach der sozialen Revolution und mit der damit sich vollziehen-
den Auflösung der Klassengesellschaft erledigen sich auch die Nebenwidersprüche. Allerdings kön-
nen wir heute eine sozialistisch-kommunistische Agitation mit einem pointierten Hinweis auf die Nebenwidersprüche erfolgreich durchführen. Es gilt, gerade die am meisten benachteiligten Grup-
pen zu organisieren und ihnen zu vermitteln, dass ihre Not mit der Aufhebung der allgemeinen Not ihr Ende findet.“ Noch ist die gruppenspezifische Argumentationslinie bei schwulen Aktivisten in den meisten Fällen in eine allgemeine politische Position eingebunden; mit dem erstarkenden Selbstbewusstsein finden sich aber immer häufiger Argumente einer schwulenspezifischen Eman-
zipationsbewegung. Schwule fragen sich vermehrt, wie man denn ein Leben als Nebenwiderspruch leben kann, und organisieren sich nach und nach außerhalb der bestehenden linken Zirkel. In München radikalisieren sich die Schwulen auch als Reaktion auf Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von 1971. Horst Schreck, Tho-
mas Bedall, Bernadott Akimoff, Frank Meinhold und weitere Freunde begründen 1972 die Homo-
sexuelle Aktions-Gruppe
(HAG). Nach einem Protest der Kaffeefirma Hag benennen sich die Akti-
visten in Homosexuelle Aktion München (HAM) um.

Noch jemand protestiert: Hannes Heindl, der patriotisch-monarchistische Vorsitzende des König-Ludwig-Clubs, will, wenn alle Stricke reißen, durch eine Besetzung von Neuschwanstein die Film-
pläne Viscontis verhindern, der eine Ludwig-II-Verfilmung mit Helmut Berger plant.

Überraschung

Jahr: 1972
Bereich: Schwule/Lesben

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