Materialien 2018
Kurt Eisner an Sarah Sonja Lerch
Liebe Sarah,
das kann an so einem ereignisreichen Tag schon mal vorkommen, dass man wo hängenbleibt. Es ist nicht so schlimm. Hauptsache, Du warst sicher in der Rathausgalerie, und es ist Dir nichts passiert.
Ich bin derweil durch’s Westend gezogen mit dem wackeren Häuflein Aufrechter, das noch übrig geblieben war nach dem unerwarteten Abzug der Schalmeienkapelle mit den roten Transparenten, die es vorzog, sich in ihr Wachlokal im Haus mit der roten Fahne zurückzuziehen. Der Stadtrund-
gang des Plenums R führte uns bis zur Schule an der Guldeinstraße, die wir allerdings verwaist vorfanden: Weder Soldaten noch Matrosen weit und breit! Die Polizeibegleitung mit dem grellen Blaulicht, das mir dauernd unangenehm in die Augen stach, wäre gar nicht nötig gewesen. An der Hackerbrücke habe ich dann noch schnell den Freistaat Bayern proklamiert, weil’s für den Mathä-
serbräu eh zu spät geworden wäre. Den gibt’s ja auch gar nicht mehr. Ich musste dringend zur Wies’n zurück ins Herzkasperlzelt, um dort rechtzeitig nach der Revolutions-Revue das Podium zu erklimmen und meine Ansprache zu halten: „Zu Trost und Hoffnung für die Genossinnen und Ge-
nossen von der Mehrheits-Sozialdemokratie“, so habe ich angesetzt, „denkt Euch nichts wegen dem schlechten Wahlergebnis und den noch miserableren Umfragewerten danach. Die meinigen waren am 12. Januar 1919 noch desaströser. Und Ihr werdet auch nicht gleich erschossen.“ Das machte sie mir gewogen, und wohlwollender Applaus brandete auf. So hörten sie mir wenigstens zu.
„Ihr braucht auch nicht zu den Kasernen marschieren, die sind nicht mehr da. Am Marsfeld sind nur noch Finanzämter. Und auch das Telegrafenamt braucht Ihr heute nicht erobern, es existiert nicht mehr. Aber die Rüstungsindustrie, die gibt es mehr denn je in München und Umgebung.“ Hier hätte ich Dich dem inzwischen gebannt lauschenden Publikum gern vorgestellt als eine der wesentlichen Organisatorinnen des Rüstungsarbeiter-Streiks vom Januar 1918, aber Du warst halt nicht da. Schade! Ich spannte geschickt den Bogen zur sozialen Frage: „Auf Kanonen können wir nicht wohnen. Schade, dass der Oberbürgermeister nicht mehr da ist; sonst hätte ich ihm gern gesagt, was München wirklich braucht: Einen generellen Mietstopp!“ Donnernder Applaus! „Ein Mieterhöhungs-Moratorium! Für mindestens zehn Jahre keine Mieterhöhungen mehr!“ Jetzt waren auch die letzten Noagerlzutzler aufgewacht und hellauf begeistert. Den stürmischen Beifall nutzte ich geschickt, um zur möglichst zahlreichen Unterstützung der Proteste gegen die NATO-Sicherheitskonferenz im Bayerischen Hof aufzurufen: „Kommt alle zur Anti-SiKo-Demo am Sams-
tag, den 16. Februar um 13 Uhr auf den Stachus!“ (am liebsten hätte ich hinzugefügt: „Da lebe ich noch“, habe es mir aber verkniffen, um nicht historisch zu verwirren).
Ich endete mit den Hochrufen: „Es lebe die Republik! Es lebe der Freistaat Bayern! Es lebe die Räte-Demokratie! Es lebe die Revolution!“ Das Zelt tobte, blieb aber mehrheitlich sitzen. Ich setzte mich dann nach etlichen Begrüßungen und Eigenablichtungen (Selfies) ebenfalls, um mir ein hal-
bes Hendl und eine Maß Bier einzuverleiben. Einer vom Kulturreferat hatte mir seinen Verzehrbon spendiert, wohl zum Ausgleich dafür, dass ich nicht direkt um 18 Uhr noch vor dem OB Dieter Reiter sprechen konnte, der’s naturgemäß eilig hatte. Dem Dienstrang nach wäre das eigentlich angemessen gewesen. Doch sei’s drum! Ein erfolgreicher Abend war es allemal, auch wenn ich mir den Platz im Programm spontan nehmen musste. Dabei war das zurückhaltend formulierte, selt-
sam eingedampfte, ja beinahe geschichtsverleugnende Motto „Was ist Demokratie?“ an diesem 7. November 2018 durchaus revolutionär zu beantworten: Gegen Krieg und Aufrüstung auf die Straße gehen! Zumindest das! Hinterher sagte mir jemand, mein Redebeitrag sei der einzige des Abends gewesen, der überhaupt einen aktuellen Bezug hergestellt habe. Hoffentlich hat’s was gefruchtet. Du hast also, liebe Sarah, durchaus was versäumt.
Gruß. K.E.
Fotos: Volker Derlath