Materialien 2018
Never Again
Seit Anfang November besuchen Staatsmänner in Europa Soldatenfriedhöfe des Ersten Weltkrie-
ges im Westen. Dort reichen sie sich die Hände. Gleichzeitig arbeiten sie an europäischen Militär-
bündnissen, betreiben eine nie dagewesene Aufrüstung im Rahmen der NATO, der EU und auch national. An den Grenzen zu Russland finden gerade umfangreiche Kriegsübungen mit zehntau-
send deutschen Soldaten statt.
Die Mohnblumenfelder fordern Nachdenken über den bis dahin – im Menschengedenken – schlimmsten Krieg. Der erstmalige Einsatz von chemischen Waffen, U-Booten, und Flächenbom-
bardements zerstörte halb Europa und forderte 17 Millionen Tote. Ein Krieg, den das deutsche Kaiserreich, seine wirtschaftlichen, militärischen und gesellschaftlichen Eliten schon lange vorbe-
reiteten, bis sie den dafür geeigneten Anlass fanden. Ihre Kriegsziele waren die ökonomische und politische Vormachtstellung in Europa und mehr Kolonien. Die deutsche Arbeiterbewegung und mit ihr die Sozialdemokratie waren die größte und stärkste in Europa. Die Regierenden in Deutschland fürchteten den Widerstand aus diesen Reihen, denn bisher hatte die Sozialdemokratie Annexionen, wie z.B. die von Elsaß-Lothringen verweigert und mit dem Aufruf zur Verbrüderung beantwortet. Im Juli 1914 gab es noch große Demonstrationen in Deutschland gegen die drohende Kriegsgefahr und gegen die Kriegsmobilisierung der kaiserlichen und königlichen Monarchie Österreichs.
Doch schon wenige Tage später hatte sich die Mehrheitssozialdemokratie von der Propaganda der deutschen kriegsbereiten Regierung, die Österreich bereits Anfang Juli in Geheimdiplomatie Un-
terstützung zugesagt hatte, umgarnen lassen. Die führenden Mehrheitssozialdemokraten übernah-
men die Parolen vom „Verteidigungskrieg gegen die zaristische Despotie“ und „der aufgezwunge-
nen Notwehr“ und stimmten geschlossen für Kriegsanleihen im Parlament. Es gab „Keine Parteien mehr – nur noch Deutsche!“ Karl Liebknecht stimmte als einziger beim 2. Mal gegen die Bewilli-
gung von Kriegskrediten. Eine nationalistische Mobilmachung aus allen etablierten Kreisen be-
gann. Die „Russenfurcht“ half. Mit deutschen Überlegenheits-Mythen, Rassismus und mit einer angeblichen Bedrohung von außen, wurden die Menschen auf die Schlachtfelder getrieben.
Dass die russische Regierung eine Depesche mit einem Verhandlungsangebot geschickt hatte, ver-
heimlichte die deutsche Regierung. Es war ein Gebräu aus patriotischem Taumel, gezielter Desin-
formation und Rassismus, dass später vom NS-Regime noch übertroffen werden sollte. Nur wenige Intellektuelle und Wissenschaftler stellten sich gegen die Kriegspropaganda. Beispielsweise Albert Einstein. Und natürlich Heinrich Mann, der schon lange gegen Militarismus und Obrigkeitsstaat wirkte. In diesem Völkerschlachten konnten die mit dem Deutschen Reich verbündeten Jungtür-
ken den Völkermord an den Armenieren durchführen – mit Zustimmung der deutschen Regierung. Ungehindert durch deren politisches, diplomatisches und militärisches Gewicht, wurden 1,5 Millio-
nen Armenier verschleppt, erschossen oder mussten verdursten. Hart, aber nützlich sei dies, so die damalige deutsche Diplomatie.
Der Friedensschluss vor 100 Jahren, an den wir heute erinnern, wurde teuer erkauft. Nach Jahren des Kriegselends demonstrierten trotz militaristischer Unterdrückung Menschen. So streikten bspw. im Januar 1918 in München 8.000 Arbeiter in Munitionsfabriken. Das Signal zum Ende dieses Mordens breitete sich Ende Oktober bis Anfang November 1918 aus. Soldaten weigerten sich, das Töten fortzusetzen. Zuerst die Matrosen und Arbeiter in Kiel, dann in Berlin und Mün-
chen. Zusammen mit anderen Kriegsgegnern forderten sie: „Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung, Frieden, Brot, Sozialismus, Demokratie“. Die Revolution begann unblutig und blieb es eine Weile. „Brüder! Nicht schießen!“ Bis die alten, den Krieg tragenden Kräfte, die ihre Niederlage und ihren moralischen Bankrott nicht eingestehen wollten, mit der Dolchstoßlegende mobil mach-
ten. Sie schufen „Ordnung“ gegen die Friedenskräfte, die sie „Novemberverbrecher“ nannten. Mit dabei die Thulegesellschaft, deren Zeichen das Hakenkreuz ist. Sie organisierten in Bayern den Mord an dem ersten Ministerpräsidenten Kurt Eisner. Für dessen Mörder war Eisner „ein Bolsche-
wik und ein Jude“, „der muss weg“.
Aus dem Thulekampfbund wurde das Freikorps „Bund Oberland“, das Anfang Mai 1919 mit ande-
ren weißen Truppen in ganz Bayern Blutbäder anrichtete. In Berlin waren bereits Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet worden. Die Vorläufer der NSDAP, mit Hitler als Spitzel der Reichs-
wehr, fanden in Bayern gute Bedingungen. Sie sammelten sich und formten schon früh ihr anti-
kommunistisches, „antibolschewistisches“ und antijüdisches, rassistisches Revanche-Programm, das alle bisherigen Verbrechen und Gräuel in den Schatten stellen soll. Und wieder begann dieses Mordprogramm 1933 zusammen mit den Deutschnationalen. Die darauffolgende Entrechtung und Ausschaltung der politischen Gegner im Faschismus ebnete den Weg in den rassistischen Erobe-
rungs- und Vernichtungskrieg Deutschlands. Ohne diesen Krieg wären die beispiellosen Verbre-
chen, wie der Holocaust, nicht möglich gewesen. Erst die Eroberung und Besetzung vieler Länder im Osten Europas schuf die Voraussetzungen für den massenhaften Völkermord an Juden, Sinti und Roma und an den slawischen Bewohnern der überfallenen Länder.
Am Eingang der Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers Belzec und als Wandinschrift am Denkmal für die Ermordeten steht der Vers Hiob 16,18: „O Erde, bedecke mein Blut nicht, lass meinen Hilfeschrei niemals verstummen.“ Zur Erinnerung gehört heute die Verantwortung für diese ungesühnten Massenmorde und Kriegsverbrechen der Vergangenheit. Für eine demokrati-
sche Gesellschaft ist es lebensnotwendig, dass Unrecht und Verbrechen klar benannt, aufgeklärt und geahndet werden.
Heute wird oft darauf hingewiesen, dass wir schon über 70 Jahre in Frieden in Europa leben. Doch Deutschland ist heute der drittgrößte Waffenlieferant der Welt und befeuert den Krieg, den wir hier noch nicht haben, an anderen Orten der Welt. Die fortdauernden, von der Bundespolitik ge-
förderten Waffenlieferungen, wie die an Saudi-Arabien, sind nur das aktuellste Beispiel, wie der Profit der Rüstungsindustrie an oberster Stelle steht und der Hungertod von Millionen Menschen im Jemen gleichgültig hingenommen wird.
Forderungen nach Einstellung der Rüstungsproduktion werden mit dem Hinweis auf Arbeitsplätze abgewiesen. Arbeitsplätze für Menschenleben! Zynischer – menschenverachtender – kann man diesen Standpunkt nicht nennen.
Wenn wir aufhören, uns gegen diese Verletzung von Humanität und Menschenrech-
ten zu stellen, wenn wir die Zerstörung von Asylrecht und Flüchtlingsschutz schön-
reden lassen und uns nicht vehement gegen Aufrüstungs- und Kriegspolitik, gegen Waffenexporte einsetzen, geben wir die Errungenschaften der Befreiung von Fa-
schismus und Krieg preis.
Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau e.V.