Materialien 2013
Wachen wir bitte auf!
Liebe Freunde,
es lohnt sich immer, die „Le Monde diplomatique“ zu lesen. Da mein Französisch leider sehr zu wünschen übrig lässt, muss ich mich mit der deutschen Ausgabe begnügen. Aber auch die hat‘s in sich.
In der aktuellen Ausgabe vom November 2013 ist ein Artikel erschienen, der mich in inneren Auf-
ruhr versetzt hat. Einer dieser journalistischen Beiträge, wo man sich fragt, warum das nicht in großen Lettern auf Litfasssäulen und in den Headlines der millionenstarken Medien veröffentlicht wird.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als die Entmündigung unserer Demokratie, in einem für mich bislang unvorstellbarem Ausmaß:
„TAFTA – die große Unterwerfung“ von Lori Wallach. (Leitet die weltweit größte Verbraucher-
schutzorganisation)
Es geht um das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen, eine Art „Wirtschaftsnato“, die eine Art transatlantische Freihandelszone begründen will. Die Verhandlungen über dieses TTIP-TAFTA-Projekt finden hinter verschlossenen Türen statt, damit niemand beizeiten mitbe-
kommt, was tatsächlich auf dem Spiel steht. Für diese Heimlichtuerei gibt es einen einfachen Grund: Ein solches Abkommen würde die nationalen Regierungen bis hinunter zu den Kommunal-
verwaltungen verpflichten, ihre aktuelle und künftige Innenpolitik dem umfangreichen Regelwerk anzupassen.
„In diesem Abkommen wären auf diplomatischer Ebene ausgehandelte Gesetzesvorgaben festge-
schrieben, die nach dem Wunsch der Unternehmen auch viele nicht handelsbezogene Bereiche beträfen: etwa die Sicherheit und Kennzeichnung von Lebensmitteln, die Grenzwerte chemischer und toxischer Belastung, das Gesundheitswesen und die Arzneimittelpreise, das Recht auf Privat-
sphäre im Internet, Energieversorgung und kulturelle „Dienstleistungen“, Patente und Urheber-
rechte, die Nutzung von Land und Rohstoffen, die Rechte und die Arbeitsmöglichkeiten von Im-
migranten, die öffentliche Auftragsvergabe und vieles andere mehr. Wenn das TTIP-Tafta-Projekt zustände käme, könnte jeder beliebige Investor, der in einem der beteiligten Länder engagiert ist, alle möglichen „nicht handelsbezogenen“ Bestimmungen unter Beschuss nehmen – genau so, wie es in dem gescheiterten MAI-Abkommen von 1998 vorgesehen war. Allein dies macht das TTIP-Projekt zu einer Bedrohung von völlig neuen Dimensionen. Und da jede nachträgliche Vertrags-
änderung der Zustimmung sämtlicher Signatarstaaten bedarf, wären die reaktionären Inhalte des Abkommens durch demokratische Kontrollmechanismen wie Wahlen, politische Kampagnen und öffentliche Protestaktionen nicht mehr angreifbar.“
Dieses Abkommen wäre ein Staatsstreich der Konzerne gegen die Demokratie. Um nur eines der vielen Beispiele herauszugreifen:
„Die Anhebung der ägyptischen Mindestlöhne und ein peruanisches Gesetz zur Kontrolle toxischer Emissionen werden derzeit von Unternehmen der USA wie der EU unter Berufung auf ihre Inves-
torenprivilegien bekämpft. Andere Firmen klagten unter Berufung auf das Nafta-Abkommen gegen Garantiepreise für die Einspeisung erneuerbarer Energie und gegen ein Fracking-Moratorium … Ebenso hat der US-Pharmakonzern Eli Lilly unter Hinweis auf den Nafta-Vertrag dagegen geklagt, dass Kanada die Lizensierung von Arzneimitteln nach eigenen Kriterien wahrnimmt (um möglichst allen Leuten erschwingliche Medikamente zugänglich zu machen). Und der schwedische Energie-
konzern Vattenfall will von Deutschland wegen der einschränkenden Bestimmungen für Kohle-
kraftwerke und der schrittweisen Stilllegung von Atomkraftwerken eine Entschädigung in Milliar-
denhöhe eintreiben …
Die Lebensmittelsicherheit. Hier will die US-Fleischindustrie die Verhandlungen nutzen, um das EU-Verbot für mit Chlor und anderen Desinfektionsmitteln behandeltes Hähnchenfleisch zu kip-
pen. Während die strengeren EU-Standards die Gefahr einer Kontaminierung der Produkte wäh-
rend des Schlacht- und Verarbeitungsprozesses reduzieren, begegnen die US-Regeln dem Konta-
minierungsrisiko durch ein Desinfektionsbad, das Koli- und andere Bakterien auf den Hähnchen-
teilen abtöten soll. Also fordert der Mutterkonzern der Restaurantkette Kentucky Fried-Chicken, das Abkommen müsse die EU-Standards für Lebensmittelsicherheit so verändern, dass die Euro-
päer ihre Chlorhähnchen kaufen können.
Noch ein Beispiel: Das amerikanische Fleischinstitut (AMI) empört sich, die Europäische Union bestehe auf ihrem „ungerechtfertigten“ Verbot von Fleisch, das unter Einsatz von Wachstumshor-
monen erzeugt wurde. Diese Mittel, wie etwa Ractopamin, sind wegen der Gesundheitsrisiken für Mensch und Tier in 160 Staaten – darunter allen EU-Ländern, aber auch Russland und China – verboten oder eingeschränkt. Auch der Verband der US-amerikanischen Schweinefleischprodu-
zenten (NPPC) hat seine Wünsche: „Die US-Schweinefleischproduzenten werden ein Ergebnis nur akzeptieren, wenn es das EU-Verbot für den Einsatz von Ractopoamin im Produktionsprozess be-
seitigt.“
Was das bedeutet möchte ich noch einmal explizit erwähnen:
Wir können wählen, wen und was wir wollen. Unseren demokratisch gewählten Regierungen wären die Hände gebunden. Sie müssen sich den reaktionären Forderungen der Ökonomie fügen.
Die Diktatur ist nicht ganz ausgereift, sie übt noch, heißt es in „Empört Euch“ – sie reift wie es scheint, und wir haben nur noch eine Chance:
Wir müssen uns wehren. Ich weiß nicht ob es schon Unterschriftenlisten gibt, wenn nein, dann müssen wir welche schaffen. Wir müssen unseren Politikern klar machen, dass wir sie nicht als Hampelmänner der Konzerne haben wollen. Wir müssen unsere Journalisten darauf hinweisen, das zu thematisieren, eben auch, wenn die Besitzer der Medien genau diesen Konzernen ange-
hören. Das erfordert Mut. Aber anders ist der Karren nicht mehr aus dem Dreck zu ziehen.
Lori Wallach, der ich für diesen Beitrag sehr dankbar bin, schreibt am Ende: „Aber die gute Nachricht kommt zum Schluss: Alle bisherigen Versuche, internationale Handelsabkommen als trojanisches Pferd zum Abbau des Sozialstaats und die Rückkehr zu einem neoliberalen Nacht-
wächterstaat zu benutzen, sind jämmerlich gescheitert. Das wird auch dieses Mal so kommen, wenn die Bürger, die Medien und auch einige Politiker endlich aufwachen und die klammheim-
lichen Versuche, die Demokratie zu untergraben, zum Scheitern bringen. Wachen wir bitte auf!!!“
(Alle Zitate aus dem oben genannten Artikel. Bitte abonniert die „Le Monde diplomatique“, ver-
mutlich ist sie wie alle kritischen Zeitungen von der Pleite bedroht)
Konstantin Wecker
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/11/08.mondeText1.artikel,a0003.idx,0