Materialien 2019

Für Verhältnismäßigkeit

22. März 2019

Sehr geehrter Herr Dr. Küppers,

vor einigen Jahren haben meine Frau und ich während eines Besuches in Israel und Palästina auch die Mauer in der Westbank gesehen. Deshalb haben wir uns mit großem Interesse am 17.03.2019 im Eine-Welt-Haus (EWH) den Film „Broken“ von Mohammed Alatar angeschaut und an der nachfolgenden Diskussion teilgenommen. Weder war der Film antisemitisch noch wurden in der Diskussion antisemitische Forderungen erhoben. Gleich zu Beginn der Veranstaltung hat der Lei-
ter des Eine-Welt-Hauses auf den Stadtratsbeschluss von 2017 zur BDS-Thematik hingewiesen und deutlich gemacht, dass das Eine-Welt-Haus kein Forum für die BDS-Kampagne sei und bei der Diskussion über den Film antisemitische Äußerungen jedweder Art nicht geduldet würden. Auf die Bedenken des Münchner Kulturreferates wurde ausdrücklich Bezug genommen. In diesem Sin-
ne ist die Veranstaltung auch verlaufen.

Von den Teilnehmern an der Veranstaltung wurde allerdings der Versuch der Stadt, die Veranstal-
tung zu unterbinden, einhellig kritisiert. Der Regisseur selber zeigte sich irritiert, dass es in Mün-chen für die Präsentation seines Filmes erst einer Gerichtsentscheidung bedurfte. Auch ich sehe mit großer Sorge, wie die Verantwortlichen der Stadt in vorauseilendem Gehorsam und zur Ver-
meidung von Konflikten in zunehmendem Maße mit dem Vorwurf des Antisemitismus durch An-
weisungen und Verbote in das Veranstaltungsprogramm der städtisch finanzierten Einrichtungen und damit zugleich in die Meinungs- und Kunstfreiheit der Bürger eingreifen. Die Folgen sind Be-
richterstattungen wie jene in der AZ vom 19.03.2019 von Felix Müller mit der wahrheitswidrigen Behauptung, dass sich das EWH offenbar nicht an die Vorgaben der Stadt gehalten habe. Im Rahmen dieser falschen und bewusst reißerischen Berichterstattung werden nicht nur die Teil-
nehmer an der Veranstaltung als „linke Antisemiten“ und Unterstützer der BDS-Kampagne dis-
kriminiert, es wird auch in der Öffentlichkeit gezielt der Eindruck erweckt, dass sich antisemiti-
sches Gedankengut in München, in Bayern und in Deutschland immer weiter ausbreiten würde. Durch das städtische Verdikt der Filmvorführung wurde das Gegenteil dessen erreicht, was er-
reicht werden sollte. Hierdurch wird der Konflikt zwischen Palästina und Israel auch in Deutsch-
land immer weiter emotionalisiert und er gewinnt dadurch eine Bedeutung in der öffentlichen Diskussion, die weit über andere größtenteils viel dramatischere und grausamere Konflikte hinausgeht. Zugleich führt das Vorgehen der Stadt dazu, dass das Vertrauen der Bürger in die Unabhängigkeit und Redlichkeit der öffentlichen Verwaltung schwindet.

Ich habe, sehr geehrter Herr Dr. Küppers, Verständnis dafür, dass die Stadt darauf achtet, dass ihre städtischen Institutionen und auch alle anderen von ihr finanzierten Einrichtungen nicht zur Unterstützung der BDS-Kampagne genutzt werden dürfen. Bei gegebenenfalls erforderlichen Ent-
scheidungen und Vorgaben ist jedoch aus rechtsstaatlichen Gründen stets der Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit zu beachten. Dieser Grundsatz wurde im vorliegenden Fall, wie zuvor schon in anderen, den Gasteig betreffenden Fällen verletzt. Wenn die Sorge besteht, dass eine israelkritische Veranstaltung zu antisemitischen Zwecken missbraucht werden könnte, kann dem die Stadt da-
durch begegnen, dass sie die Leitung der Einrichtung, in der die Veranstaltung stattfinden soll, da-
zu verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Veranstaltung nicht für anti-
semitische Ziele missbraucht werden darf. Das kann z.B. durch die Aufnahme einer entsprechen-
den Klausel in den Mietvertrag mit dem Veranstalter oder/und durch entsprechende Vorgaben des Hausherrn zu Beginn und ggf. während des Laufes der Veranstaltung erfolgen. Dass damit die Interessen der Stadt gewahrt werden können, hat das EWH bei der Filmvorführung am 17.03.2019 in vorbildlicher Weise vorexerziert.

Es ist ein Unding und ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, eine Veranstal-
tung alleine deshalb zu verbieten, weil als Veranstalterin die Jüdisch-Palästinensische Dialoggrup-
pe und namentlich Frau Judith Bernstein auftritt. Das hieße, Frau Bernstein zur persona non grata in allen städtischen bzw. städtisch finanzierten Einrichtungen zu erklären. Was für ein Umgang mit einer Jüdin im Land der Täter, deren Großeltern in Auschwitz ermordet wurden! Da man Frau Bernstein selber wohl nicht des Antisemitismus zeihen kann, wird sie verschiedentlich als „selbst-
hassende Jüdin“ apostrophiert, eine ebenso abstruse wie ehrverletzende Wortschöpfung. Ich kenne niemanden, der mit der Komplexität der Geschichte Palästinas und Israels und mit den aktuellen Problemen der gesamten Region so vertraut ist, wie Frau Judith Bernstein und ihr Ehemann Dr. Reiner Bernstein, dessen jüngste Publikation „Wie alle Völker?“ eine scharfsinnige Analyse der Probleme der internationalen Diplomatie mit Israel und Palästina enthält. Auch der Film von Mo-
hammed Alatar macht diese Probleme im Zusammenhang mit dem Mauerbau deutlich, der in einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 09. Juli 2004 für völkerrechtswi-
drig erklärt wurde und dessen Einstellung bzw. Beseitigung daraufhin von der UN-Vollversamm-
lung am 20. Juli 2004 mehrheitlich (150 Ja-Stimmen gegenüber 10 Neinstimmen und 6 Enthal-
tungen) gefordert wurde.

Ich habe München in der Vergangenheit als eine weltoffene Stadt kennengelernt, in der Gedanken- und Meinungsfreiheit als hohes Gut angesehen und geschützt wurde und Personen nicht öffentlich verunglimpft und an den Pranger gestellt wurden, nur weil sie Meinungen vertreten, die nicht dem Mainstream entsprechen. In der Antisemitismusdiskussion ist Augenmaß und Behutsamkeit gefor-
dert und bei die Meinungsfreiheit einschränkenden Entscheidungen stets der Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit zu beachten. Kein Bürger lässt sich gerne zu einem Antisemiten stempeln, nur weil er an einer Veranstaltung teilnimmt, in der Kritisches zu Israel geäußert werden könnte und ggf. tatsächlich auch geäußert wird.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. H. Wurzbacher


https://www.jpdg.de/meldungen/2019/3/22/brief-von-mindirig-ad-dr-hartmut-wurzbacher-an-das-kulturreferat-der-stadt-mnchen

Überraschung

Jahr: 2019
Bereich: Internationales