Materialien 1971

„Gegen-München“ heißt nicht gegen München

von Reinhard Wetter

Berliner, Hamburger und Osnabrücker haben es gut: Sie alle sind keine Münchner. Münchner zu sein in der Stadt, die sich auf die Olympischen Spiele und das große Geschäft vorbereitet, heißt, einem Image nachzulaufen – oder sich in das antiautoritäre Lager zu schlagen.

„Was könnte man über München anderes sagen, als dass es eine Art von deutschem Paradies sei?“ So schrieb 1925 Thomas Wolfe. Nachdem er einen Maßkrug über den Schädel bekommen hatte, sprach er anders. Mittlerweile lässt sich vieles andere sagen.

Nachdem man in Mexiko den Leistungskampf der Welt-Jugend mit blutigen Massakern und Tausenden von politischen Gefangenen demonstriert hatte und die Münchner Olympia-Werber dies als „die farbenprächtigsten Spiele“ lobten, da wurde Sport nicht mehr genüsslich konsumiert oder überlegen verachtet. Eineinhalb Jahre vor den Olympischen Spielen hat sich eine Gegen-München-Bewegung gebildet. Alt- und Neu-Linke, Literaten und Sozialwissenschaftler haben die bayerische Metropole zum Gegenstand ihrer Kritik und antiolympischer Aktionsplanung gemacht. „Verhindert die Olympischen Spiele 1972!“

Olympia-Werbung und -PIanung vermischte sich zwanglos mit Münchner Urbanität, Münchner Sozialpolitik und Sozialstrategie. „Olympia“ wurde zum Vehikel der Stadtplanung – „München wird moderner“, „Olympiastadt mit Herz“, „Wir wollen würdige Gastgeber sein“. Das Silber-Blau-Grün des Olympia-Dessins soll von bayerischen Seen, Alpen-Schnee und grünen oberbayerischen Wiesen verkünden. Aus der heimlichen Hauptstadt, der Biermetropole, dem Zentrum für Ski-Wut, Lebenslust, Karrieren und Karrieristen aller Sparten, besonders der schönen Künste in Wort und Bild wurde: München, die Reformstadt, ganz vorn in der Stadtplanung, im wirtschaftlichen Wachstum und ganz besonders vorn in der Public-Relation.

Von den Anti-Olympia-Komitees ist bis jetzt nicht viel übriggeblieben. Sie verkümmerten zu Ein-Mann-Unternehmen, und die „Roten“ Zellen finden bisher wenig Interesse für solche „Überbau-Phänomene". Vielleicht wird sich das ein paar Tage vor dem Einmarsch der Gladiatoren ändern. Olympia-Kritik hat sich vorläufig auf den kontemplativen und den medialen Bereich beschränkt.

Filmemacher und Verlage wollen rechtzeitig in das Olympia-München-Geschäft einsteigen. Jung-
film-Greise wie Schamoni und Bogner bemühen sich um den offiziellen Olympia-Werbefilm, einen Anti-Olympia-Film plant still und heimlich Günter Herburger. Während die Auflage der Bavarica-Literatur mit Bayerns Zwiebeltürmen, Münchner Madln und Museen prächtig anschwillt, brachte der Hanser-Verlag ein „Gegenmünchen“-Buch heraus. Autor: Paul Wühr. Ein Buch, das nicht glo-
rifizieren will, sondern demonstrieren: „… für Unordnung, Spiel, Dreck, Lust, Geschmacklosigkeit, Befreiung“, sagt der Presse- und Bauchbindentext. Der Verlag hält das Werk für das „wichtigste und beste Buch“; leider stößt es „auf Unverständnis“. 1.000 verkaufte Exemplare – die Lust an der Unordnung ist anscheinend nicht sehr groß. Schaut man allerdings in das Buch rein, bleibt von der polit-reißerischen Aufmachung wenig übrig. Auf dreihundertvierzig Seiten wird moderne Lyrik aufbereitet. Lyrik, die thematisch zwar mit einigen derzeitigen sozialen und politischen Problemen entfernt zu tun hat, aber in lyrischer Ferne bleibt.

Ein politisches Buch zu machen, war auch nicht Absicht des Autors. Schöne Literatur sollte es sein. Interessant ist deshalb eigentlich nur die Art der Aufmachung. Mit „Gegen-München“ verspricht man, was Real-München offiziell nicht bietet. Neben die geleckte Werbung (Weltoffenheit, Heiter-
keit und Frische) wird das Abstruse, das Chaotische und Anarchische gesetzt. Auf Stadtplänen taucht, den Texten unterlegt, der Anarchist beim Justizpalast auf und auf dem Königsplatz die Gestapo. Münchner Schmutz und Unordnung bleiben nicht einfach schmutzig und unordentlich bestehen. Die angegriffene Harmonie des Stadt-Images verträgt auch ein bisschen Chaos und Un-
ordnung. Münchens Toleranzspielraum ist groß, ist selbsttragende Säule der Münchner Ideologie, des Münchener „Wir-Gefühls“. Fern jeglicher Geschichte und sozialer Gegensätze wusste man in München bisher erfolgreich mit Widersprüchen zu leben und Propaganda zu machen: Tradition und Fortschritt, Weltoffenheit und Volkstum, Trachtenvereine und Schwabings Gammler, Ord-
nung und Liberalität, Leberkäs und chinesische Spezialitäten. Zu München passt zwangsläufig auch „Gegen-München“. Zwar erregte sich Bürgermeister Bayerle noch über ein Plakat, auf dem das „Münchner Kindl" als verhutzelte Oma mit Rettich sitzt und verbot nach Altväter-Sitte die Verbreitung, aber Herr Strobl vom Münchner Fremdenverkehrsamt hält es großzügig nur für „eine Gaudi. Von mir aus könnte man es ruhig anschlagen“. Das Anti-Olympia-Poster mit dem Liebling der Münchner Justiz, Fritz Teufel, avancierte zum Werbeträger von Sportgeschäften und zum Wandschmuck von Stadtverwaltern. Was macht‘s, wenn das Modell indiziengerecht zu zwei Jahren verknackt wird? Nichts. Es zeigt nur die andere Seite der Toleranz. Ob hinter Stadelheimer Gardi-
nen, ob unterm gekreuzigten Vorturner überm Richtertisch, ob unterm 100-Millionen-Zeltdach oder jenseits der olympischen Bannmeile – der Toleranzspielraum bietet allen Platz.

Eine Mini-Umfrage der Münchner Abendzeitung („Hirnbeiß und Schwabinchen“), wie die Frau und der Mann auf der Straße denn für ihre Stadt werben würden, bewies nur: Die Cutterin, der kaufmännische Angestellte, die 18jährige Schülerin – sie alle möchten „ihre“ Stadt genauso präsen-
tieren, wie die PR-Zuständigen es bereits tun. Werben würden auch die Betroffenen mit Bier und Bildchen, mit Trachten und Schwabings Legende, mit Siegessäule und original bayerischer Mund-
art. Man sollte sich fragen, ob die Tradition der Arbeiterbewegung einfach „als solche“ analytischen Wert hat in einer Stadt, die weniger durch Industrieproletariat als durch Feinmechaniker und An-
gestellte des Dienstleistungsbereiches charakterisiert ist. Die Ideologie kann wohl nicht mehr ein-
fach als „Verschleierung von Herrschaft“ abgetan werden und die Tausende, die jährlich trotz ho-
her Preise, niedriger Löhne und Luftverpestung nach München drängen, sind nicht nur als arme Verführte zu bezeichnen. Es gilt, den schönen Schein, selbst die spezifische Münchner Ideologie vom allumfassenden Zusammenleben ernst zu nehmen – man muss seine Funktion und die Ver-
ankerung in der sozio-ökonomischen Situation analysieren.

Eine Gruppe junger Sozialwissenschaftler hat sich an diese Arbeit gemacht. Die „Münchner Stu-
diengruppe für Sozialforschung“ plant eine umfassende Untersuchung des Münchenkomplexes. Sie sagen: „Wir sehen in München ein Modell sozialdemokratischer Verwaltung, ein Modell spätkapi-
talistischer Herrschaft, das das CDU-Staat-Modell der vergangenen Jahre auch in der Bundesrepu-
blik ablösen wird.“ Entscheidend ist der Zusammenhang von ökonomischer Prosperität, neuen Verwaltungsmethoden und Sozialstrategien – eine davon die Münchener Form Olympischer Spiele – und dem speziell in dieser Stadt bereits sichtbaren neuen Sozialcharakter des neuen Mittelstan-
des bestimmt durch Dienstleistungsbetriebe und Freizeitkultur: „München ist der Mutterbauch für den apathisch-depressiven Sozialtypus.“


twen 3 vom März 1971, 107.

Überraschung

Jahr: 1971
Bereich: Olympische Spiele