Flusslandschaft 1973

Militanz

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Bei Demonstrationen „geht es manchmal zur Sache“. Bei einigen Aktivisten
paart sich Angst mit Wut. Maler Franz Gans versucht diese Haltung zu zeigen.


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Am Montag, 24. September, beginnt der Prozess vor der 5. Strafkammer des Landgerichts Mün-
chen gegen Rechtsreferendar Rolf Pohle, 31, wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Urkunden-
fälschung. Die Zugänge zum Schwurgerichtssaal des Justizpalastes am Stachus werden scharf kontrolliert. Das Gebäude ist eine Festung, das Publikum wird durch Polizeispaliere am Seiten-
eingang zum Saal 270 geschleust, der vom Hausinnern aus nicht mehr erreicht werden kann.4

Herbst 1973: Die Gefangenen der RAF werden von Angehörigen, Solidaritätskomitees und von Rote-Hilfe-Gruppen unterstützt. Diese werden von der RAF immer wieder ultimativ aufgefordert, über ihre „karitative Unterstützung“ hinaus „inhaltlich zu argumentieren“. Die erbittert geführten, internen Auseinandersetzungen überschreiten zuweilen die Grenzen des Erträglichen; manche Genossinnen und Genossen verlassen enerviert die Rote Hilfe. Im Münchner Rote-Hilfe-Info 18/
1973 heißt es: „Die RAF soll halt auch mal an der Basis mitarbeiten und nicht nur die scheißbür-
gerliche Arbeitsteilung (Basisarbeit – RAF) reproduzieren. Wie kommt die Rote Hilfe dazu, die Agitationsarbeit der RAF zu ersetzen? Man sollte einmal klar und deutlich sagen, dass wir es satt haben, permanent den Moralpredigten aus den Knästen ausgesetzt zu sein. Wir wollen eine Kritik, die uns weiterbringt, aber nicht so ein moralisches Geschwätz.“5 – Als „Winterreise“ wird die bis dahin größte Fahndungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik ein Jahr später, am 26. No-
vember 1974, bezeichnet, in deren Rahmen es auch zu verschiedenen staatlichen Maßnahmen gegen Rote-Hilfe-Gruppen kommt, denen man unterstellt, sie seien Rekrutierungsfeld für den bewaffneten Kampf der RAF und der Bewegung 2. Juni.


1 Ölskizze, Karton, 24 × 28,5 cm, Privatsammlung.

2 Zeichnung von Gerhard Seyfried in Rote Hilfe Hamburg, Frankfurt, Berlin, München 18, (Anfang März 1973), 5.

3 Zeichnung von Gerhard Seyfried in a.a.O., 11.

4 Vgl. Münchner Merkur 219/1973. Siehe die „Erklärung“ der Rechtsanwälte Frank Niepel, Eggert Langmann und Hartmut Wächtler sowie die Entgegnung von Staatsanwalt Dieter Emrich, siehe „Lieber Hartmut“ von Rolf Pohle und „Areopag Athen“ von Hans-Christian Ströbele. Vgl. Rolf Pohle, Mein Name ist Mensch. Das Interview, Berlin 2002. – Rolf Ludwig Pohle (geboren am 4.1.1942 in Berlin; gestorben am 7.2.2004 in Athen), Sohn eines Münchner Juraprofessors, Ende der Sechziger-Jahre Teilnahme an der entstehendenen Außerparlamentarischen Opposition (APO), 1967 AStA-Vorsitzender der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nach dem Attentat auf Dutschke im April 1968 und Teilnahme an diversen De-
monstrationen gründet er als Rechtsreferendar angesichts der anlaufenden Prozesswelle gegen Demonstrationsteilnehmer die „Rechtshilfe der APO“. 1969 wird er selbst in einem umstrittenen Prozess wegen der angeblichen Beteiligung am Barri-
kadenbau während der Blockade der Bild-Zeitung 1968 zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Die Strafe muss er zwar nicht antreten, seine Karriere als Rechtsanwalt ist aber damit besiegelt. – 1974 Verurteilung zu sechseinhalb Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Waffenbesitzes und Unterstützertätigkeit für die Rote Armee Fraktion (RAF). Die Unterstützertätigkeit hat er stets bestritten. Vom Richter aufgefordert, Angaben zu seiner Person zu machen, verliest er den Text des Liedes „Mein Name ist Mensch“ von Rio Reiser. – Im März des folgenden Jahres wird er gemeinsam mit Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann und Rolf Heißler im Aus-
tausch gegen den von der „Bewegung 2. Juni“ entführten CDU-Politiker Peter Lorenz aus dem Gefängnis freigelassen und
in Begleitung des Berliner Pfarrers Heinrich Albertz in den Südjemen ausgeflogen. – Pohle reist von dort weiter nach Grie-
chenland, wo er im Juli 1976 erneut verhaftet und an Deutschland ausgeliefert wird. 1982 Haftentlassung. Zwei Jahre später lässt Pohle sich endgültig in Griechenland nieder. Dort arbeitet er als Journalist, Deutschlehrer und Übersetzer, beständig von diversen Geheimdiensten bespitzelt. — Rolf Pohle war schwul. Da rümpfte auch mancher Linker die Nase. Und weil er nicht schwul sein durfte, durfte er auch nicht an AIDS sterben. „An Krebs ist er gestorben“, hieß es überall. Wie verlogen doch diese Szene war. Mit wenigen Ausnahmen.

5 Zitiert nach Peter Schult, Zur aktuellen Krise in der Gefangenenbewegung, in: Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft, Neue Folge Nr. 2/1979: Die neuen Gefängnisse, Hamburg, 5.