Materialien 2006

Ein Kampf von gestern?

von Karl Ischinger

Textbausteine aus „Ein Kampf von gestern – Die Gewerkschaft Verdi streikt gegen die Interessen des öffentlichen Dienstes“ von Nikolaus Piper, Süddeutsche Zeitung vom 20. Februar 2006:

∆ Vermutlich finden sich in dem Arbeitskampf gegen die Verlängerung der Arbeitszeit um 18 Minuten pro Tag auch deshalb kaum neue Argumente, weil es sich dabei um einen Kampf von gestern handelt, im wahrsten Sinne des Wortes.

∆ Verdis harter Kurs gibt den Gemeindeparlamenten einen weiteren Anreiz, die Müllabfuhr und andere kommunale Aufgaben an Privatfirmen zu vergeben und Jobs abzubauen. Die längere Ar-
beitszeit würde den Druck ein wenig mindern.

∆ Von gestern ist der Konflikt auch insofern, als Verdi kaum verhüllt einen Machtkampf führt: um Mitgliederzahlen, um Durchsetzungsfähigkeit und die Meinungsführerschaft im DGB. Das kurzfri-
stige Organisationsinteresse der Gewerkschaft steht, wie schon so oft, vor den langfristigen Inter-
essen der Beschäftigten

∆ Der Sparzwang in den öffentlichen Haushalten lässt sich nicht wegstreiken; und er ist bei den Ländern besonders groß: Sie haben den bei weitem höchsten Anteil an Personalkosten, unter anderem weil Polizei, Schulen und Universitäten Ländersache sind.

∆ Ein erstklassiges Angebot an öffentlichen Gütern gehört zu den wichtigsten Standortfaktoren. Dafür sind qualifizierte und motivierte Mitarbeiter notwendig, und um die zu bekommen, muss der Staat ein guter Arbeitgeber sein. Aber er kann es auch nur sein, wenn er seine Finanzen in Ordnung bringt.

Dazu ein Leserbrief von Karl Ischinger:

Vorweg: Wir sind in Bayern und hier kämpft VER.DI u.a. dagegen, dass den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes die 42-Stunden-Woche aufgezwungen wird. 42 statt 38,5 Wochenstunden – das sind pro Tag nicht 18 Minuten mehr, sondern 42, auf’s Jahr gerechnet 182 Stunden und mithin nahezu ein Jahresurlaub, der uns geklaut wird – wenn nicht die Stiftung Soziale Marktwirtschaft und ihre Helferlein in den Medien inzwischen die Regeln der Mathematik geändert haben. Auch hat mich nicht Herr Bsirske „auf die Straße geschickt“: meine Kollegen und ich sind groß genug, um zu entscheiden, wann es reicht mit den Zumutungen der Staatsregierung und das ist definitiv jetzt der Fall: 8% Lohnsenkungen durch Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Arbeits-
zeiterhöhung ohne Lohnausgleich, ständige Arbeitsverdichtung durch Stellenabbau.

Längst widerlegt sei das Arbeitsplatzargument, heißt es. Aber wenn Stoiber 100.000 Arbeitnehmer wöchentlich 3,5 Stunden unbezahlt mehr arbeiten lässt (= 9,1% mehr), kann er damit 9.000 Ar-
beitsplätze (abgerundete 9% von 100.000) einstampfen und es gibt für ihn bei seinem Politikver-
ständnis keinen Grund, weshalb er das nicht tun sollte. Spätestens hier stellt sich die Frage, wer denn den öffentlichen Dienst an die Wand fahren lässt. Nicht VER.DI hat diesen Streik vom Zaun gebrochen; es waren die Arbeitgeber, die einseitig – quasi als Dank für die jahrelange Lohnzurück-
haltung – die zuvor ausgehandelten Tarife gekündigt haben. Kleiner Exkurs: von 2000 bis 2005 hat die Produktivität der Arbeit um 7% zugenommen, die Reallöhne jedoch um weniger als 1%. Die Differenz ging an die Arbeitgeber, die Zahl der Beschäftigten ist weiter gesunken.

Aber statt auf Fakten einzugehen, ist es natürlich einfacher, die ewig gleichen, von den Arbeitge-
bern vorgefertigten gewerkschaftsfeindlichen Textbausteine durch das Textverarbeitungssystem rumpeln zu lassen mit all den Mythen, die die Privatisierungsfreunde so gerne pflegen. Z.B., dass die Müllabfuhr deshalb privatisiert wird, weil die Menschen, die dort arbeiten, gerechte Löhne und familienfreundliche Arbeitszeiten beanspruchen. It’s not labor costs, stupid, it’s politics. Es ist po-
litischer Wille, den öffentlichen Dienst auszubluten, es ist kein gottgegebenes Schicksal, dass die Steuereinnahmen rückläufig sind, sondern Ergebnis einer bewussten Steuerpolitik, die Unterneh-
men auf Kosten der Allgemeinheit entlastet, in der vagen, seit Jahrzehnten unerfüllten Hoffnung, die lieben Unternehmer würden dann aus Dankbarkeit ein paar Arbeitsplätze schaffen. Welcher Kapitalist wäre so blöd!

An die 2 Mio. kostet ein Transrapid, den keiner braucht; jedes Jahr werden in Bayern mehrere Millionen Euro an Steuern hinterzogen, weil die Finanzämter stellenmäßig ausgeblutet werden; diverse Steuerreformen bei den Vermögens-, Körperschafts- und Gewerbesteuern haben den Unternehmen zwischen 1999 und 2002 57,9 Mrd. Euro geschenkt; eine Vermögens- und Erb-
schaftssteuer, wie sie in anderen Ländern längst üblich ist, wird als Neidsteuer verunglimpft. Diese Politik, Herr Piper, macht unseren öffentlichen Dienst kaputt, nicht die unmäßige Geldgier unserer Krankenschwestern, Müllmänner, Bühnenarbeiter und Verwaltungsangestellten.

Und noch etwas macht den Streik von VER.DI zeitgemäß und notwendig: es geht auch darum, für den öffentlichen Dienst einzutreten, ihn zu erhalten und auszubauen, denn nur ein guter öffentli-
cher Dienst kann Daseinsvorsorge garantieren, gewährt gleiche Chancen und Rechte für alle, hält unsere Gesellschaft zusammen. Dass dies in einem der reichsten Länder der Erde nicht finanzier-
bar sein soll, mag glauben wer will. Den Kampf von gestern fechten viel eher die aus, deren Hori-
zont über die Ökonomisierung jeder menschlichen Tätigkeit nicht hinausgeht, die den Wachstums-
fetisch wie eine Monstranz vor sich hertragen, die arbeitende Menschen nur noch als Kostenfak-
toren sehen. Die Frage, die mit diesem Streik auch gestellt wird, heißt: wer dient wem, der Mensch der Wirtschaft oder die Wirtschaft dem Menschen? Und diese Frage könnte aktueller nicht sein.


Zeitendiebe und Lohnräuber. Ausgewählte Texte zum VER.DI-Streik 2006, München 2006, 15 ff.