Materialien 2006

Rede über die Gerechtigkeit

von Sabine Gruber

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

zu Anfang grüße ich die streikenden Kolleginnen und Kollegen von den Straßen- und Autobahn-
meistereien, den Universitätskliniken und den Staatstheatern! Ich überbringe Euch die solidari-
schen Grüße der bayerischen Beamtinnen und Beamten!

Heute kämpfen wir Seite an Seite für unsere gemeinsamen Ziele:

∆ Weg mit der 42-Stunden-Woche

∆ Volles Urlaubs- und Weihnachtsgeld für alle … und

∆ Einkommenserhöhungen für alle Landesbeschäftigten

Ich bin beim Amtsgericht München beschäftigt und erfahre dort als Personalrätin jeden Tag, welche Auswirkungen die Politik der bayerischen Staatsregierung hat.

Dazu ein paar Beispiele: Die Einstellungszahlen der Beamtenanwärter sind in den letzten Jahren ständig gesunken; im vergangenen Jahr sind für den OLG-Bezirk München, also den gesamten südbayrischen Raum, nicht einmal 50 Anwärter im mittleren und gehobenen Dienst eingestellt worden – und die haben nicht einmal die Gewähr, dass sie nach der Ausbildung übernommen werden. Alles eine konkrete Folge der Sparpolitik der Staatsregierung und der Stelleneinsparungen aufgrund der 42-Stunden-Woche.

Anderes Beispiel: In einem Büro machen 3 Kollegen dieselbe Tätigkeit – eine Beamtin mit 42 Stunden-Woche und gekürztem Weihnachts- und Urlaubsgeld; eine Angestellte, die die 38,5-Stunden-Woche und das Urlaubs- und Weihnachtsgeld wegen der tarifvertraglichen Nachwirkung bekommt, und eine neu eingestellte Angestellte, die weder Urlaubs- noch Weihnachtsgeld be-
kommt und dafür 42 Stunden arbeiten muss. Auf die Dauer ist das Gift für das Betriebsklima.

Aber Ihre Rechnung geht nicht auf, Herr Stoiber! Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen!

Letztes Beispiel: Bisher konnten wir befristet Beschäftigte in aller Regel im Anschluss in ein unbe-
fristetes Beschäftigungsverhältnis übernehmen. Seit wegen der 42-Stunden-Woche jedoch Stellen gestrichen worden sind, besteht die Gefahr, dass diese Kolleginnen nach dem Auslaufen der Be-
fristung auf der Straße stehen!

Von den Ministerpräsidenten der TdL, allen voran Herr Stoiber, wird ja immer gerne argumen-
tiert, dass es den Beamten nicht vermittelbar sei, wenn Arbeitnehmer an der 38,5-Stunden-Woche festhalten wollen; dies sei nicht zeitgemäß und gegenüber den Beamten ungerecht.

Ich möchte diesen Gedanken gerne mal anders herum denken, und deswegen frage ich Euch:

Ist es gerecht, wenn die bayerische Staatsregierung den Beamten per Gesetz das Weihnachtsgeld kürzt und das Urlaubsgeld weitgehend streicht und dann anschließend die entsprechenden ta-
rifvertraglichen Bestimmungen kündigt – unter dem Vorwand der Gleichbehandlung?

Ist es gerecht, wenn die Staatsregierung ihren Beamten die 42-Stunden-Woche verordnet und im gleichen Atemzug unter dem Deckmäntelchen der Gerechtigkeit den Tarifvertrag zur Arbeitszeit kündigt?

Ist es gerecht, wenn der Freistaat Bayern allein durch die Arbeitszeitverlängerung bei den Beamten bisher schon 15.000 Stellen eingespart hat? Wenn die 42-Stunden-Woche für alle bayerischen Beschäftigten gelten würde, bedeutet das nochmals einen Verlust von über 1.000 Arbeitsplätzen.

Ist das gerecht gegenüber den Arbeitslosen in Bayern, die dadurch keine Chance auf einen Arbeits-
platz beim Freistaat haben? Ist das gerecht insbesondere gegenüber den jungen Menschen, die keinen Ausbildungsplatz in einer bayerischen Behörde bekommen?

Nein, es ist das Gegenteil von Gerechtigkeit! Es ist ein verlogener Versuch, mit dieser Art von „Gleichbehandlung“ den Staatshaushalt auf unsere Kosten zu sanieren! Und wer behauptet, dass die 42-Stunden-Woche Arbeitsplätze schafft, kann entweder nicht rechnen oder versucht uns für dumm zu verkaufen!

Wir Beamten wollen Gerechtigkeit und Gleichbehandlung – aber auf dem Niveau des Tarifver-
trags, wo sich die Verhandlungspartner auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen, und nicht auf der Basis einer Verordnung par ordre du Mufti Stoiber!

Stoiber hat bisher bei den bayerischen Beamten eingespart, soweit seine Kompetenzen es zuließen. Doch wenn künftig wegen der Föderalisrnusreform die Bundesländer noch weiter gehende beam-
tenrechtliche Kompetenzen erhalten, dann gute Nacht, Bayernland! Besoldungs- und Beihilfekür-
zungen, völlige Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld oder sogar die 45-Stunden-Woche – Arbeitgeberwünsche werden wahr, und der Druck auf die Tarifverträge wächst. Deshalb wollen wir Beamten in VER.DI ein modernes Beamtenrecht, das inhaltlich mit dem TVÖD vergleichbar ist und die wesentlichen Fragen, insbesondere der Besoldung, bundeseinheitlich regelt.

Zum Argument, .dass bei den Beamten eingespart werden muss, weil ja die Versorgungslasten so hoch und die öffentlichen Haushalte so leer sind, will ich noch zwei Dinge sagen: Das Problem mit den Versorgungslasten ist hausgemacht; es wurden über Jahre keinerlei Versorgungsrücklagen gebildet, wie das bei einer seriösen Haushaltsführung notwendig gewesen wäre. Zudem war es – und ist es noch – politischer Wille der Staatsregierung, in vielen Bereichen Beschäftigte nur im Beamtenverhältnis einzustellen, obwohl dies verfassungsrechtlich (Stichwort hoheitliche Aufga-
ben) gar nicht notwendig wäre. Aber mit Beamten kann man halt leichter umspringen …

Und die öffentlichen Kassen sind immer nur dann leer, wenn das als Argument zum Sparen an den Beschäftigten dient. So lange nämlich noch Geld für äußerst umstrittene Prestige-Projekte wie den Transrapid oder eine WM-Eröffnungszeremonie zum Fenster hinausgeschmissen wird, oder der Freistaat sogar auf Einnahmen verzichtet, weil er zu wenige Steuerprüfer und Steuerfahnder be-
schäftigt, beeindruckt mich das Argument der leeren Kassen jedenfalls nicht sonderlich.

Tatsache ist jedenfalls:

∆ Die 42-Stunden-Woche bedeutet faktisch eine Gehaltskürzung; wer für weniger Geld länger ar-
beiten muss, wird auf die Dauer demotiviert!

∆ Die 42-Stunden-Woche macht es für viele Beschäftigte fast unmöglich, Beruf und Familie unter einen Hut zu kriegen!

∆ Die 42-Stunden-Woche bedeutet Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst, treibt befristet Be-
schäftigte in die Arbeitslosigkeit und bringt keinem einzigen Arbeitslosen einen neuen Job!

Arbeitszeitverlängerung ist also

∆ leistungsfeindlich,

∆ familienfeindlich und

∆ ungerecht!!!

Vielen meiner Kolleginnen und Kollegen stinkt es mittlerweile garlz gewaltig, und sie wünschen sich tatsächlich einen Transrapid für unseren Ministerpräsidenten. Und sie sagen: „Bitte, Herr Stoiber, steigen Sie in den Hauptbahnhof ein! Und dann heben Sie ab, fliegen Sie – nach London, Paris, Rom oder sonst wo – und kommen Sie so bald nicht wieder!“

Auf Wiedersehen und Pfia Gott!!


Zeitendiebe und Lohnräuber. Ausgewählte Texte zum VER.DI-Streik 2006, München 2006, 27 ff.