Materialien 2006

Rede vor dem Saal ...

von Helga Nützel

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

während unserer Streikvorbereitung haben mich zwei Überlegungen besonders bewegt:

Die erste handelt davon, dass mir in verschiedenen Variationen die Frage gestellt wurde: Sollte jemand im Öffentlichen Dienst nicht dankbar sein, dass er Arbeit hat und dazu noch eine relativ gesicherte? Mir ist dazu Folgendes eingefallen:

Natürlich geht es uns besser als z.B. den Kollegen bei AEG. Die wissen ja nicht mal, ob sie in Zukunft überhaupt noch den Lebensunterhalt für sich und eventuell auch noch ihre Familie verdienen können.

Allerdings – und das ist schon die erste Einschränkung – führt eine Arbeitszeitverlängerung für uns dazu, dass Arbeitslose noch weniger Chancen auf eine neue Stelle bekommen.

Über diese Tatsache hinaus geht es mir aber noch um mehr: Wir sind erwachsene Menschen, die ihre Energie, ihr Können und ihre Fähigkeiten einem Arbeitgeber zur Verfügung stellen, der sie dafür nicht gerade fürstlich entlohnt.

Wer hat uns bloß in den Kopf gesetzt, dass wir dafür dankbar sein müssten? Was passiert da eigentlich gerade in unserer Gesellschaft? Was entsteht da für ein Menschenbild, das davon aus-
geht, dass man erst dann ein moralisches Recht hat, sich zu wehren, wenn man schon völlig am Boden liegt?

Sollte das sozusagen das letzte Wort des Kapitalismus an mich als arbeitenden Menschen sein: dass ich dankbar sein muss dafür, dass ich überhaupt arbeiten darf – irgendwann egal zu welchen Bedingungen – dann taugt er an dieser Stelle offenbar nichts und wir sollten uns Gedanken ma-
chen, wie das zu ändern ist.

Die zweite Überlegung hat damit zu tun, dass ich an der Universität bemerkt habe, es verändert sich etwas in der Haltung zur Gewerkschaft. Es sind Beschäftigte gekommen, die sich für uns interessieren und welche, die Mitglied geworden sind.

Ich habe Kollegen kennengelernt, die in ganz anderen Standorten und Arbeitsgebieten an der LMU tätig sind. In gewisser Weise habe ich in diesen Wochen meine Universität besser kennengelernt als in den ganzen elf Jahren, die ich dort arbeite. Und ich bin nicht die Einzige, der das so gegan-
gen ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten das heute nicht als Eintagsfliege behandeln. Das meine ich nicht nur im Hinblick auf den Kampf zur Verteidigung unserer Arbeitszeit und unseres Lohns. Wie der ausgehen wird, wissen wir noch nicht. Vielleicht war dieser erste ja auch noch nicht unser letzter Streiktag.

Ich meine es durchaus längerfristig: Wir sollten das, was sich jetzt gerade in unseren Dienststellen bewegt, nicht einfach wieder verpuffen lassen. Wenn Sie noch nicht Mitglied in der Gewerkschaft sind, werden Sie es! Bringen Sie sich ein mit Ihren Gedanken, Ihren Vorstellungen und Ihren Ideen! Wir wollen ja nicht den Rest unserer Lebensarbeitszeit immer nur gegen Verschlechte-
rungen kämpfen, sondern uns eines Tages auch mal wieder Neues und Besseres erobern.

Gewerkschaftliches Engagement kann tatsächlich eine Bereicherung für das Arbeitsleben sein. Lassen Sie sich das nicht entgehen!

Rede auf der Protestkundgebung gegen Stoiber am 17.2.2006 auf dem Rosenkavalierplatz in München.

… und im Saal

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

heute ist der allererste Streiktag in meinem Arbeitsleben.

Ich komme von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Dort sind, gemessen an der Gesamtzahl der Beschäftigten, sehr wenige gewerkschaftlich organisiert. Wir werden aber gerade mehr. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht, dass einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu Ministerpräsident Edmund Stoiber geleistet hat. Er hat es tatsächlich geschafft, Menschen, die gern und gut an der Universität arbeiten, so gegen sich aufzubringen, dass sich heute trotz breit angelegter Einschüchterungsversuche sogar Nicht-Gewerkschafts-Mitglieder am Streik beteiligen.

Wir haben die Arbeit niedergelegt – und jetzt spreche ich auch für meine Kollegen aus den Stra-
ßenmeistereien, den Theatern, der Oper und den Kliniken – weil wir gegen die 42-Stunden-Woche kämpfen. Das tun wir schon allein deshalb, weil unsere Mehrarbeit den Arbeitslosen nicht nützt, sondern schadet. Eine Arbeitszeitverlängerung um fast 10% bringt dem bayerischen Staatshaushalt ja nur dann die beabsichtigte Kostenersparnis, wenn anschließend Stellen im gleichen Umfang abgebaut werden. In Wirklichkeit handelt es sich also bei der Arbeitszeitverlängerung für uns um ein flächendeckendes Programm der Arbeitsplatzvernichtung.

Dagegen sind wir in den Streik getreten.

Wir kämpfen aber auch deshalb gegen die 42-Stunden-Woche, weil wir nach der Arbeit noch unsere Kinder vom Kindergarten abholen, einkaufen, kochen und den Haushalt machen müssen. Meine Kollegen und ich haben keine Putzfrau, die das schon für uns erledigt hat, bis wir heim-
kommen. Und irgendwann am Tag wollen wir uns auch den Menschen und Dingen widmen, die uns außerhalb unserer Arbeit interessieren und Freude bereiten. Alles braucht, wie man weiß, eben seine Zeit.

Das familienpolitische Konzept der bayerischen Staatsregierung, das dieser Politik der Arbeitszeit-
verlängerung und Lohnkürzung zugrundeliegt, halte ich überhaupt für bemerkenswert. Alleiner-
ziehende wiederum können teilweise gar nicht länger arbeiten. Sie müssten bei 42 Stunden ihre Arbeitszeit reduzieren und dann von noch weniger Geld leben. All das verlangt Herr Stoiber von uns.

Wir haben die Arbeit niedergelegt, weil wir gegen die Streichung des Urlaubs- und Weihnachtsgel-
des kämpfen. Das sind keine Almosen, das ist Bestandteil unseres Lohns. Viele von uns leisten sich vom Weihnachtsgeld nicht schöne Dinge des Lebens, sondern bezahlen davon Versicherungen und andere notwendige Vorsorge. Wir kämpfen alleine an diesem Punkt gegen eine Lohnkürzung von fast 8 Prozent.

Und schließlich haben wir die Arbeit niedergelegt, weil jetzt schon unsere Reallöhne gesenkt wur-
den und Herr Stoiber uns sogar die bescheidene Einmalzahlung von 300 Euro im Jahr verweigert, die unsere Kollegen aus Bund und Kommunen erhalten.

Wir verlangen von der Bayerischen Staatsregierung: was VER.DI mit dem Bund und den Kommu-
nen ausgehandelt hat, muss auch für uns gelten. Wir wollen uns nicht länger gegeneinander aus-
spielen und in Beschäftigte erster, zweiter und dritter Klasse spalten lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir werden diese Politik ganz bestimmt nicht einfach über uns ergehen lassen. In den Dienststel-
len des Freistaats Bayern wird es unruhig werden.

Und wenn Sie stur bleiben, Herr Stoiber, dann kann das lang dauern, und es wird Ihrem Staat und Ihrem Ansehen nicht gut tun.

Gehalten auf der DGB-Landeskonferenz am 17.2.2006 vor Ministerpräsident Edmund Stoiber


Zeitendiebe und Lohnräuber. Ausgewählte Texte zum VER.DI-Streik 2006, München 2006, 31 ff.