Materialien 2019

Denkhemmungen

mit Auszügen aus Texten von Dolf Schiesser, Manès Sperber Archiv (Berlin) und Rolf Gramke†

Das Programm der LINKEN ließe sich verkürzt zusammenfassen: „Die Mehrheit der Bevölkerung will soziale, ökologische und friedliche Politik.“

Aber: Die Bevölkerungs-Mehrheit glaubt, es allenfalls mit wirtschaftskonformen neoliberalen bis Rechts-Kräften verwirklichen zu können. Es fehlt an Klassenbewusstsein (würde Marx sagen). Heute würden wir das eher so formulieren: Es fehlt an Bewusstsein ihrer realen sozio-ökonomi-
schen Lage und an Mut zu neuer Praxis, die ein Herausprozessieren einer neuen Lage ermöglicht. Mit anderen Worten, sie sind durchdrungen von neoliberaler kapitalistischer Ideologie, sie haben wenig Wissen von ihrer Entfremdung, die mit der kapitalistischen Produktionsweise einhergeht.

Vorstellungen von Stärkung z.B. der:
Vergesellschaftung (nicht Verstaatlichung!) der Produktionsmittel und des Mehrwertes: Fehlan-
zeige — auch bei den LINKEN Fehlanzeige!
Weiterentwicklung der Arbeitnehmer-Mitbestimmung im Aufsichtsrat: Fehlanzeige, liegt auf Eis bzw. ist rückläufig durch vermehrte Ansiedlung von ausländischen Firmen ohne eine entspre-
chende gesetzliche Mitbestimmung! (Ausländische Firmen, die man ja auch nicht vergraulen möchte)

Die Privatisierung des produzierten Mehrwerts durch die im bürgerlichen Recht festgeschriebenen Kapitaleigner hat Brecht genial sehr treffend, kurz und leichtverständlich (trotzdem von der Mehr-
heit nicht verstehen wollend) so ausgedrückt:

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Die heutige, allgemein geglaubte und für rechtens und legitim befundene, neoliberale Vernunft sieht aber, tönend aus dem sicheren Brustton ihrer juskonformen Überzeugung, eher noch diesen Zusatz vor (natürlich nicht von Brecht):

Der Reiche sagt, der Schwärmer:
„Wär ich nicht reich, wärst du noch ärmer.“

„Das Sein formt das Bewusstsein“ (Marx) – aber auch formt dialektisch-umgekehrt das Bewusst-
sein das Sein. Viele Mitbürger stimmen den linken Forderungen zu und wählen dann anschließend andere Parteien, oder gar nicht. Warum? Die meisten Gründe sind unbewusster Natur, welche be-
wusste, aber nicht hinterfragte Meinungen produzieren.

Die große Mehrheit ist ideologisch und seelisch beherrscht von den Triebkräften und der Logik der privatwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Marktwirtschaft, getragen von Unternehmern UND Lohnabhängigen, die die Arbeitskraft der Menschen zur Ware machen. Wie die kapitalistische Marktwirtschaft der Menschen ganze Tätigkeit entpersönlicht, so vereinzelt sie sie seelisch umso mehr. Den „öffentlichen Bewusstseinsraum“ hat der Kapitalismus in Form seiner Kulturhegemonie erfolgreich besetzt. Erneute Festigung des „öffentlichen Bewusstseins“ im Sinne neoliberaler „Vernunft“ ist seit ca. 30 Jahren auf dem Vormarsch.

Es beginnt und versteinert sich im scheinbar ganz Kleinen; es beginnt schon damit, dass gewisse Worte und Definitionen im öffentlichen Bewusstsein diffamiert, ja geradezu moralisch als unan-
ständig empfunden werden und obsolet geworden sind. Allein schon das Wort Klasse (erst recht Klassenbewusstsein oder Klassenkampf) ist so diffamiert, dass jeder als rückständig abgestempelt ist, der es in den Mund nimmt. Ausbeutung wird als unmoralischer Begriff tabuisiert außer bei offensichtlicher Sklavenhaltung, usw.

Nun, für all diese Begriffe ließen sich selbstverständlich adäquate andere finden, und die diffamier-
ten sollte man nicht mehr benutzen, so können sie eventuell wieder Frische ins Denken bringen, so dass sie nicht schon sofort abgeblockt werden. Z.B.:
statt Klasse: (gesellschaftliche) Interessensschicht,
statt Klassenkampf: (gesellschaftlicher) Interessenskonflikt,
statt Ausbeutung: Mehrwertsaneignung
(Leider haben solche Neuschöpfungen notgedrungen nicht mehr diese knackige Prägnanz, wie die Marxschen Begriffe.)

Die Bevölkerung ist der Lüge von der Gleichwertigkeit zwischen Kapital und Arbeit, der vielgeprie-
senen und vielbemühten sog. „Sozialpartnerschaft“, aufgesessen. Brechen in der beruflichen Praxis die Widersprüche dieser Lüge auf, werden sie geleugnet, vor sich selbst versteckt, irgendwie „er-
klärt“ (rationalisiert); dieses Rationalisieren läuft zumeist darauf hinaus, dass der von Widersprü-
chen betroffene Lohnempfänger einen Fehler bei sich sucht; er funktioniert ja eben doch wohl hoffentlich „sachdienlich“?; welcher Sache?, wem dienlich?, solche Fragen dringen nicht bis ins Be-
wusstsein. Die bewusste Wahrnehmung würde ja einen Konflikt heraufbeschwören, der existenz-
bedrohende Folgen haben kann und in vielen ausgefochtenen Konflikt-Fällen ja auch hat. Sicherer ist es, den Widerspruch zu leugnen, zu verdrängen: der Widerspruch wird meist als ein bei sich selbst zu suchender „Fehler“ von der Firmenleitung bis hinunter zur konkreten Arbeitsumgebung nahegelegt und (vielleicht zwar murrend) akzeptiert. Wird Korrektur dieses „Fehlers“ bei sich selbst aber nicht geschafft, ist das Ende davon oft ein psychisches/körperliches Symptom („Psycho-
somatische Störung“ wie: Depression, Sucht, Magengeschwüre, Schmerzen unklarer Genese …). In günstigeren Fällen wird ein Kompromiss gefunden (setzt voraus, dass der – nebenbei auch eventu-
ell das Produktionssystem – störende objektive Widerspruch beiden Seiten überhaupt bewusst wird), der jedoch oft nicht befriedigt.

Dieses Psychosomatische Symptom dann ist gesellschaftlich akzeptiert — als ein im Prinzip zu lö-
sendes Problem —, wenn der „Kranke“ nur auch mitarbeitet an der Lösung (was er oft nicht kann) und die Krankenbehandlung greift (was sie oft nur vorübergehend tut, z.B. mittels Psychopharma-
ka). Nicht bewusst gewordener Widerspruch im Produktions- und Verwertungsprozess wird psy-
chosomatisiert; er ist damit als ein zu lösendes Konfliktpotential ausgeschieden und – allerdings scheinbar nur – erledigt. Insofern haben die auftretenden Symptome durchaus systemstabilisie-
renden
Charakter. (Siegfried Zepf: „Zur Theorie der psychosomatischen Erkrankung“, Fischer Verlag, 1973. Aus der Einleitung: „… gesellschaftliche Funktion (der psychosomatischen Erkran-
kungen) wird analysiert und bestimmt: Anpassung an gegebene gesellschaftliche Verhältnisse wird durch die Bildung eines Symptoms aufrechterhalten. Damit wird eine, wenn auch zwiespältige, systemstabilisierende Funktion der psychosomatischen Erkrankung offenbar.“)

Als nicht unwesentlicher Nebeneffekt kann die Pharmaindustrie damit enorme Umsätze tätigen, und der Betroffene ist sich einer gewissen Schonung und des Mitgefühls seiner Umgebung sicher, hat einen „sekundären Krankheitsgewinn“ (Freud); für konkurrierende Kollegen mag ein ge-
schwächter Kollege kurzfristig vorteilhaft erscheinen, eventuell wird er jedoch gegen einen „robu-
steren“ Mitarbeiter ausgetauscht.

Dazu kommen dann vordergründige fatalistische Argumente (z.B. schon 1962, also schon 13 Jahre nach Gründung der BRD, nach einer redaktionellen Befragung):

∆ Alfred K., 63 Jahre, Rentner: „Gehen Sie doch weg mit ihrer Politik! Ich habe den ersten und zweiten Weltkrieg mitgemacht, und beide Male war das Geld kaputt. Gefragt haben die da oben uns nie. Es ist doch alles nur Betrug!“
∆ Karl G., 42 Jahre, Vertreter: „Glauben Sie denn, dass Sie etwas ändern können?“
∆ Frau B., Hausfrau: „Ich verstehe nichts von Politik. Wenn ich die Zeitung lese oder einen von denen im Radio höre: da kommt doch ein einfacher Mensch gar nicht mehr mit!“
∆ Karl O., 45 Jahre, Arzt: „Ach wissen Sie, es sind doch immer die gleichen Typen, die an der Futterkrippe sitzen. Fett schwimmt immer oben, da kann man eben nichts machen!“
∆ Joachim M., 32 Jahre, Betriebsschlosser: „Die halten ja doch nie, was sie versprechen. Adenauer ist bei der letzten Wahl eindeutig durchgefallen, aber er sitzt immer noch an der Spitze. Das ist doch glatter Betrug von der FDP. Beim nächsten Mal wähle ich überhaupt nicht mehr!“
∆ Oder: „Wie soll das alles bezahlt werden?“;
„Einer muss doch bestimmen, sonst geht alles drunter und drüber…“;
„Aktionäre verdienen zu Recht so viel, schließlich können sie ihr Geld auch verlieren …“;
„Es muss viel Gewinn gemacht werden, sonst springen die Aktionäre ab und außerdem muss die Firma expandieren und reinvestieren, sonst geht sie im Konkurrenzkampf ein.“

Auf dem Markt der Meinungen, der analog zur Handelsfreiheit des ökonomischen Marktes die Meinungsfreiheit ungleich höher schätzt als eine Wissenspflicht, können noch die irrigsten Vor-
stellungen auf breite Zustimmung spekulieren:

∆ Oberstes Ziel von Gewerkschaften müsse der Erhalt von Lohn und Arbeitsplätzen sein, und es bedürfe nur einer „richtigen“ Politik, um Vollbeschäftigung zu schaffen.
∆ Es gäbe so etwas wie einen gerechten Lohn und Ausbeutung sei ein (un-)moralischer Begriff.
∆ Das „Finanzkapital“ sei, im Gegensatz zur „Realwirtschaft“, verantwortlich für gegenwärtige Krisen.
∆ Probleme von Ökonomie und Gesellschaft wären durch einzelne Personen verursacht und demgemäß auch durch solche zu beheben.
∆ Der Staat seien „wir alle“ und nicht eine Instanz ökonomischer Funktion.
∆ Soziale Marktwirtschaft sei etwas anderes als Kapitalismus.
∆ Wir würden produzieren, um ausschließlich Gebrauchswerte zu schaffen.
∆ Wachstum sei der Schlüssel zur Lösung ökonomischer und gesellschaftlicher Probleme.

Auch gilt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein.

Denkanstöße zu liefern, solche ideologischen Denkhemmungen breiter Bevölkerungsschichten zumindest einmal zu hinterfragen, wenn nicht sogar ins Wanken zu bringen, könnte sich eine linke Bewegung auch ins Programm schreiben!! Das wäre Aufklärungsarbeit am Be-
wusstsein.

Das Wichtigste wäre demnach:

Radikale Aufklärung, die möglichst einfach daherkommen muss und auf Alltägliches bezug-
nimmt, damit sie jeder verstehen kann und einen Aha-Effekt erzeugt. Im Gebrauch der Sprache zeigt sich die Denkungsart (Bewusstsein) des Sprechers. Sprache entlarvt, Sprache klärt aber auch auf. Benutzt ein ganzes Volk / ganze Nation bestimmte Worte oder Sprachwendungen in einem bestimmten, dem ursprünglichen Sinne entfremdeten Sinn, so wirkt hier eine – unbewuss-
te – Ideologie.

Hier einige Beispiele:

1.) „privat“
ist dritte Person Einzahl von lateinisch „privare“=vorenthalten, aberkennen, entziehen, separieren, berauben! (KLUGE: Etymologisches Wörterbuch und https://de.wiktionary.org/wiki/privare). Historisch entstanden ist „privat“ bei der gewaltsamen Aneignung der (von Dorfgemeinschaften vergesellschafteten) Allmende-Nutzung (z.B. Wald) durch Lehnsherren und Adel. Im 15. und 16. Jahrhundert raubten in Deutschland und England in vielen Fällen weltliche Herrscher die Gemein-
deflächen (Allmende-Raub), was ein wichtiger Grund für den deutschen Bauernkrieg war. https://de.wikipedia.org/wiki/Allmende (Kap.: Geschichtliche Entwicklung). Wikipedia: „Der Wegfall der Allmende führte zu wirtschaftlichen Beeinträchtigungen und Verarmung von Kleinbauern. Aus der verarmten und durch das Bevölkerungswachstum zunehmenden Landbevölkerung rekrutierte sich dann die Arbeiterschaft in den schnellwachsenden nordenglischen Industriestädten“ (unter aus-
beuterischen Bedingungen wegen Überangebot an Arbeitern versteht sich).

2.) „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“
(Rolf Gramke, Textauszug) Schon Engels prangerte dies Beispiel an: „Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das ‚Kapital‘ den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökono-
men sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin z.B. derjenige, der sich für bare Zah-
lung von andern ihre Arbeit geben lässt, der Arbeit-„geber“ heißt, und Arbeit-„nehmer“ derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird. Auch im Französischen wird travail im gewöhnli-
chen Leben im Sinn von ‚Beschäftigung‘ gebraucht. Mit Recht aber würden die Franzosen den Ökonomen für verrückt halten, der den Kapitalisten donneur de travail, und den Arbeiter receveur de travail nennen wollte.“ (Friedrich Engels: Vorwort zur dritten Auflage von „Das Kapital“, in: Marx/Engels Werke, Bd. 23, Berlin/DDR 1968, S. 34.).

Psychologisch gesehen ist der Arbeitsvertrag ein Kaufvertrag zwischen Unternehmer und freiem Lohnabhängigen, eine gegenseitige Lebenssicherung – zwingender für den Entlohnungsabhängi-
gen, der seine Arbeitskraft verkaufen muss bei Gefahr seines baldigen „Untergangs“1, weniger zwingend für den Unternehmer, der kaufen muss bei Gefahr seiner Produktionsunfähigkeit. Damit ist der Lohnabhängigen als der wirtschaftlich Schwächere immer im Nachteil. Beim Vertragsab-
schluss drückt – auch bei absoluter Rechtsgleichheit und garantierter Freiheit der Entschließung – das große ökonomische Übergewicht des Unternehmers auf die Position dessen, der eine Arbeits-
möglichkeit suchen muss, um sein Leben zu erhalten. Kommt der Vertrag zustande, so meistens nach Maßgabe der Bedingungen, die der Unternehmer als der wirtschaftlich Stärkere2 stellt. Käme er nicht zustande, so könnte er von der Substanz seines Vermögens oder dem Ertrag seiner Rendi-
ten noch eine ganze Zeit seine Existenz bestreiten. So groß immer die Nachteile sein mögen, die ihn treffen, wenn er keine Arbeitskräfte erhalten kann, den Vergleich mit dem Zustand, in dem ein arbeitsloser Lohnabhängiger sich befindet, können sie keinesfalls bestehen. Denn Letzterer ist, sobald er seine Arbeitskraft nicht verkaufen kann, dem „Untergang“ ausgeliefert.

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1 Hierunter fällt nur zum Teil der nackte physische Hunger, sondern – schwerwiegender – auch alle sonstigen gesundheitli-
chen und sozialen Nachteile bis hin zu sozialer „Nichtexistenz“.

2 Auch im Hinblick darauf, dass der Lohnabhängige wie eine Ware dem Marktgesetz von Angebot und Nachfrage ausgelie-
fert ist, wobei meistens das Angebot die Nachfrage überwiegt.

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Wie ungünstig trotz formaler Freiheit und rechtlicher Vertragsgleichheit die Situation des Lohnab-
hängigen sich gestaltet, dafür legt eben auch der übliche Sprachgebrauch ein beredtes Zeugnis ab. Der Unternehmer, der die Arbeitskraft des Lohnabhängigen kauft und ihr Gelegenheit gibt, Ware/Brainware zu erzeugen, um dann im Produkt die geleistete Arbeit sich anzueignen, heißt Arbeitge-
ber. Der Lohnabhängige, der die Gelegenheit zur Arbeit ergreift, um Arbeit zu leisten, deren Resul-
tat er an den Unternehmer abtreten muss, wird Arbeitnehmer genannt. Die Bezeichnungen enthal-
ten in beiden Fällen eine Fälschung der tatsächlichen Beziehungen. Der Unternehmer gibt keine Arbeit, sondern nur Gelegenheit zur Arbeit. Dafür nimmt er das Resultat der vom Lohnabhängigen geleisteten Arbeit für sich in Anspruch. Er müsste logischerweise Arbeitnehmer heißen. Und der Lohnabhängige nimmt keine Arbeit in Empfang; er nimmt Gelegenheit zur Arbeit/Arbeitsleistung wahr. Das Resultat der von ihm geleisteten Arbeit gibt er als Produkt = Ware oder Denkleistung an den Unternehmer ab. Er verdiente logischerweise die Bezeichnung Arbeitgeber.

Die Vertauschung der Titel ist nicht zufällig!

Sie ist das Feigenblatt, das den Rest der Scham auf unternehmerischer Seite verdecken soll. Ein ideologischer Trick, durch den sich ein schlechtes Gewissen den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen sucht. Denn mit dem Begriff des Gebens verbindet sich landläufig die Vorstellung der Generosität, des Wohlwollens, der Güte, der mitmenschlichen Gesinnung. Mit dem Begriff des Nehmens aber die Vorstellung von einer Pflicht zur Dankbarkeit, Demut, Erkenntlichkeit für erwiesene Wohltat und Gnade. „Geben ist seliger denn Nehmen.“ Diese moralisch generöse Geberposition hat sich der Unternehmer, zusammen mit dem erarbeiteten Mehrwert, ebenfalls angeeignet.

3.) Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit
Dieser Lüge von der Sozialpartnerschaft („wir sitzen doch alle im selben Boot“; ja, aber viele als Ruderer, und einige wenige als Passagiere!) sind viele aufgesessen. Redet jemand daher von be-
stehender Gleichwertigkeit von Kapital und Arbeit, kann man ganz einfach z.B. mal fragen, ob er schon erlebt hätte, dass Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Firma (den Eignern / dem Chef / leitenden Angestellten …) ein Zeugnis ausstellen müssen, das dann beim Einstellen neuer Arbeitnehmer denen vorgelegt werden muss?

4.) Existenzgründung
Eine weitere ideologische Denkhemmung zeigt sich im Sprachgebrauch des Wortes Existenzgrün-
dung
. Es ist danach als Existenzgründer nur ein Unternehmer anzusprechen. Arbeitnehmern kommt in diesem Gedanken- und Gefühlsfeld der Umgangssprache also keine gesellschaftlich voll anerkannte Existenz zu (auch nicht bei bestem und mühevollem Ausbildungsweg und höchstem Verdienst). Der einzig Berechtigte, die Früchte „seiner Arbeit“ voll zu genießen (und sich anzueig-
nen) ist ja wohl der, der „existiert“. Andere dürfen sich glücklich schätzen, an dem Arbeitsertrag minimal teilhaben zu dürfen, denn ob sie überhaupt existieren, ist ja zunächst einmal sowieso fraglich. Immerhin kann ein Lohn sie als zweifelhafte untote Zombie-Existenzen (Adorno: „Es gibt kein echtes Leben im falschen“) am Funktionieren halten.

5.) „Steueroase“
Hier wird die Anschauungs- und Empfindungsweise des Steuervermeiders / -betrügers übernom-men. Richtiger müsste es „Steuerwüste“ heißen, da die Möglichkeiten des Staates dort die ihm zustehenden Steuern zu bekommen, stark eingeschränkt sind.

6.) „rationalisieren“
wenn es im Sinne von (angeblich „begründeten“) Arbeitskräfte-Entlassungen gebraucht wird. Es spiegelt einseitig das Argumentationsniveau des Arbeitgebers wider. Für den Entlassenen, aus seiner Sicht, ist dieser Vorgang durchaus nicht rational, dies kommt jedoch in diesem Verb nicht zum Ausdruck. Trotz allem wird dieses Verb, teilweise unreflektiert, auch vom Entlassenen selbst benutzt, ohne dass er merkt, dass er ein argumentatives Eigentor schießt. Hier trifft eher die psy-
choanalytische Definition zu: Rationalisieren ist ein Versuch, Handlungen, die durch unbewusste oder gerne verschleierte Motive gesteuert werden, nachträglich einen rationalen Sinn zu geben.

7.) „freisetzen“
für „Arbeitskräfte entlassen“. Ursprünglich schwingt bei „freisetzen“ ein positiv-befreiender Aspekt mit. Der wird hier missbraucht, um einem für die Arbeitskraft bedauerlichen bis schlimmen Vor-
gang ein positives Mäntelchen umzuhängen; mehr noch als nur euphemistisch beschönigend! Das Zynische, das hier mitschwingt, braucht wohl nicht näher erläutert zu werden. An den „Freigesetz-
ten“ ergeht unterschwellig die Aufforderung, diesem Vorgang doch auch irgendwo etwas Positives abzugewinnen.

Hier ließen sich noch etliche andere Beispiele aufführen …

Dirk Dautzenberg


zugeschickt am 23. Dezember 2019, ergänzt am 5. Juli 2024