Flusslandschaft 1974
Alternative Szene
„DIE NEUE KNEIPE heißt Fraunhofer und liegt an der gleichnamigen Straße Nr. 9. Der gleichna-
mige Herr steht hier aus Gips auf dem Sims über dem Klavier, die Inneneinrichtung ist so von 1870 und nicht neulich erst hineingestellt. Die Leute vom ‚Muh‘ in der Sendlingerstraße haben Schwung in dieses Gasthaus gebracht. Küche, Billardzimmer und Hinterräume werden demnächst eröffnet. – WOHNGEMEINSCHAFTEN treffen sich am 8. Juni, 16 Uhr, im Haus der katholischen Hoch-
schulgemeinde, Kaulbachstraße 22. Was kann man tun, um die Wohnungs- und Sozialprobleme, die berufliche Beanspruchung, die oft schlechte Kommunikation zwischen Wohngemeinschaften – alles Faktoren, die zum oft schnellen Zerfall von schön begonnenen WG’s führen – zu lösen? Eine Gruppe von Leuten, die sich zunächst über eine Kleinanzeige im BLATT gefunden hat, will eine Art WG-Kooperative bilden. Wen das interessiert (hoffentlich viele) und wer’s für wichtig hält, geht in die Kaulbachstraße. Ungefähre Diskussionspunkte, Bildung eines Forums für Wohngemeinschaf-
ten. Öffentliche Interessenvertretung? Koordinierte Beschaffung und Weitergabe von Wohnungen. Die Möglichkeiten von Arbeitsgemeinschaften für Probleme, die in Wohngemeinschaften auftau-
chen. Die WG-Kooperative lässt grüßen! – TAUSCHGEMEINSCHAFTEN wird es in München auch bald geben. Am MITTWOCH, 5. JUNI, 19.00 UHR eröffnet die Tauschkooperative den Tauschla-
den in der KANALSTR. 12 (Haltestelle: Isartor) mit Umtrunk und Kartoffelsalat. Wer wissen will, wie einkaufen ohne Geld funktionieren soll, ist herzlich eingeladen. Klappt nur, wenn viele Leute kommen!“1
„Die Münchner Wohngemeinschaftkooperative trifft sich am Freitag, den 28. Juni, um 19 Uhr wieder in der kath. Hochschulgemeinde, Kaulbachstr. 22a. Das erste Treffen war ein wohltuendes Ereignis: Über 200 Leute waren da. Am erfreulichsten: die Diskussionen und Gespräche unter allen und in den einzelnen Arbeitsgruppen verliefen ohne politische Fraktionskämpfe. Die Wohn-
gemeinschaftskooperative könnte helfen, das Leben in München billiger, freudvoller und mensch-
licher zu machen.“2
„LETZTE MELDUNG – am 28. juni 74 uhr in der kaulbachstr. 22A, KHG trifft sich die wohnge-
meinschaftskooperative zum drittenmal. auf der zweiten versammlung, am 8. juni kamen 200 leute zusammen, um über wohngemeinschaftsfragen zu diskutieren. verschiedene arbeitsgruppen haben sich gebildet. der ablaufvorschlag für das 3. forum lautet: kurze darstellung der bisherigen arbeit, fortführung der gruppenarbeit und bildung neuer arbeitskreise, beschluß weiterer aktivi-
täten. danach gibts ein fest im keller. geht hin.“3
Aussteiger suchen sich ihre Plätze in der Stadt. Behörden beklagen, dass ihnen zu wenig Gegen-
maßnahmen zur Verfügung stehen.4
Radikale Veränderungen im zwischenmenschlichen Umgang, die sich in den letzten Jahren durch-
gesetzt haben, sind der Anlass, sich diesen Strukturwandel genauer anzusehen.5
Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ zirkuliert als Raubdruck der Düsseldorfer Projektgrup-
pe Gegengesellschaft auch in München. Debord meint: „… Da, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden diese bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Moti-
vierungen eines hypnotischen Verhaltens …“6 Und jetzt wird’s widersprüchlich. Denn eines hatten die Situationisten satt: Das spektakuläre und pseudokritische Zitieren ihrer Gedanken ohne kon-
krete Zielsetzung. Es ging ihnen vielmehr darum, eine Entwendung bzw. Aneignung revolutionärer Gedanken zu betreiben, um damit – im Sinne einer Erkenntnis, die keine theoretische Erkenntnis bleiben kann – praktisch auf eine revolutionäre Situation hinzuarbeiten, die jede Umkehr unmög-
lich machen und eine Aufhebung des bestehenden Elends leisten würde.
Die revolutionäre Rhetorik ist noch nicht verstummt. Die Szene aber hat sich verändert. Was Mitte der 60er so leichtfüssig begann, endet jetzt für viele in lähmendem Stillstand und mehr.7
(zuletzt geändert am 22.8.2021)
1 Blatt. Stadtzeitung für München 24 vom 31. Mai 1974, 3.
2 Blatt. Stadtzeitung für München 25 vom 14. Juni 1974, 3.
3 Blatt. Stadtzeitung für München 26 vom 28. Juni 1974, 3.
4 Siehe „Die Entwicklung des Gammler- und Stadtstreicherunwesens“.
5 Siehe „Tja, so ist das … Wege zur Menschenkenntnis“ von Inge Heinrichs.
6 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1977, 10.
7 Siehe „Schatten an der Wand“ von Jörg Fauser.