Flusslandschaft 2020

Gedenken

Immer noch gibt es in Neuhausen die Hilblestraße. Memory Gaps ::: Erinnerungslücken plädiert für eine Umbenennung.1

Uli Gellermann sieht in einer Verengung des gedenkenden Blicks auf den Holocaust und die daraus resultierende Staatsräson unmittelbarer Identifikation mit der Haltung der Staatsführung in Israel ein Problem.2

In München sind Straßen nach Hans Pfitzner, Werner Eck, Agnes Miegel und Ina Seidel benannt. Memory Gaps ::: Erinnerungslücken hat da ein paar Fragen.3

Vor 50 Jahren fand der Brandanschlag auf das jüdische Gemeindehaus in der Reichenbachstraße 27 statt. Dabei starben Regina Rivka Becher, Max Meir Blum, Rosa Drucker, Leopold Arie Leib Gimpel, David Jakubowicz, Siegfried Offenbacher und Georg Eljakim Pfau. Der oder die Täter wurden bis heute nicht ermittelt. An die Mordtat erinnert ein Container vom 10. Februar bis 1. März auf dem Gärtnerplatz. Um allen Gerüchten endlich den Boden zu entziehen, heißt es im Aufruf von Christian Springer: „Mitwisser, Sympathisanten und (Mit)täter könnten noch leben: Brechen Sie endlich Ihr Schweigen!“4

Esther Bejarano und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistin-
nen und Antifaschisten
(VVN-BdA) fordern: „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Die militärische Zerschlagung des Faschis-
mus durch die Alliierten, Partisan*innen und Widerstandskämpfer*innen als Befreiung zu begrei-
fen, bedeutet die richtigen Schlüsse zu ziehen und auch so zu handeln. Es ist nicht hinnehmbar, dass 75 Jahre danach extreme Rechte in allen deutschen Parlamenten sitzen und in immer rasche-
rer Folge Mord auf Mord folgt. Die Lehren des 8. Mai umzusetzen, bedeutet für uns:
• AfD, NPD und ihre Verbündeten aufzuhalten,
• das Treiben gewalttätiger und mordender Neonazis zu unterbinden, ihre Netzwerke in Polizei, Bundeswehr aufzudecken und aufzulösen,
• einzugreifen, wenn Jüdinnen und Juden, Muslime, Roma und Sinti und andere, die nicht in das Weltbild von Nazis passen, beleidigt und angegriffen werden,
• Geflüchtete in Deutschland aufzunehmen,
• die Logik des Militärischen zu durchbrechen und Waffenexporte zu verhindern und
• die Diffamierung und Behinderung demokratischer und antifaschistischer Gruppen und Organi-
sationen durch Geheimdienste und Finanzämter zu beenden.
Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen nicht. Es muss gestritten werden für die neue Welt des Friedens und der Freiheit, die die befreiten Häftlinge im Schwur von Buchenwald als Auftrag hinterlassen haben. Ein offizieller bundesweiter Feiertag wäre dafür die regelmäßige Ver-
pflichtung. – Nicht nur, aber eben auch an jedem 8. Mai. Deshalb: Achter Mai – arbeitsfrei! Zeit für Antifaschismus!“ Unterschreibt auf https://www.change.org/8Mai.

Der Einmarsch der Rainbow Division der US-Army am 30. April 1945 brachte der „Hauptstadt der Bewegung“ ihr Ende. Am 7. Mai 1945 unterzeichnete der Nazi-General Jodl die bedingungslose Ka-
pitulation der Wehrmacht, am 8. Mai endete der Krieg. Die Befreiung der von den Nazis politisch und rassistisch Verfolgten, der KZ-Häftlinge, der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, der Kriegsdienstverweigerer und Widerstandskämpfer war damit verbunden. Für die NS-Verbrecher, Mitläufer und Sympathisanten war es dagegen Zusammenbruch, Niederlage und das Ende ihres mörderischen Unterdrückungs- und Gewaltsystems. 65 Millionen Menschen waren gewaltsam zu Tode gekommen. Mit 27 Millionen Getöteten waren die Völker der Sowjetunion am stärksten be-
troffen. Sechs Millionen europäische Juden wurden ermordet, über drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, bis zu 500.000 Sinti und Roma sowie etwa 300.000 behinderte und pflegebe-
dürftige Menschen. Mit der Befreiung begann ein mühsamer Prozess der Demokratisierung und der Entwicklung von Freiheitsrechten, der bis heute andauert. Gerade in Krisenzeiten ist die de-
mokratische freiheitliche Struktur einer Gesellschaft besonders wichtig und einer belastenden Be-
währungsprobe ausgesetzt. Michael Wladarsch und Wolfram Kastner: „Wir dürfen die Gefahren für die Demokratie nicht verharmlosen, wir dürfen Freiheitsrechte nicht leichtfertig aufs Spiel set-
zen und müssen sie mit Geschichtsbewusstsein bewahren und weiterentwickeln. Die braune demo-
kratiefeindliche Ideologie ist leider nicht verschwunden, wie die rechtsextremistischen Morde der letzten 30 Jahre, und vor allem der vergangenen Monate, zeigen. Es gilt, außer das coronale Virus, auch braune Viren zu bekämpfen, Infektionswege zu stoppen und Widerstandskräfte zu stärken. Wir sind alle in der Verantwortung, uns gegen Hass und Gewalt zu wehren und für freiheitliche Menschenrechte offen und sichtbar einzustehen. Am 30. April 1945 waren nur wenige weiße Fah-
nen in München zu sehen. 75 Jahre danach sollen weiße Fahnen und Tücher in der ganzen Stadt wehen, als Zeichen für Frieden und Freiheit, gegen Krieg, Hass und Gewalt. Die Beteiligung mög-
lichst vieler Institutionen und BürgerInnen der Stadt ist erwünscht.“ Vom 30. April bis zum 8. Mai werden vor dem Rathaus am Marienplatz 14 weiße Fahnen mit der Aufschrift „Tag der Befreiung – 30. April 1945“ gehisst. Auch an anderen Gebäuden in der Stadt sind weiße Fahnen zu sehen.

Am Sonntagnachmittag des 3. Mai stehen einige Aktivist*innen des plenumR vor dem Grab des Chefs der Roten Armee der Münchner Räterepublik, Rudi Eglhofer. Sie denken dabei nicht nur an die Toten der Revolution, sondern auch an diejenigen, die in den letzten Jahren im plenumR aktiv waren und inzwischen gestorben sind. Wer bei der Gedenkfeier nicht dabei sein kann, schaut sich https://youtu.be/bfSeODmYJqo an.

Antifaschistinnen und Antifaschisten feiern am 8. Mai um 18 Uhr auf dem Marienplatz 75 Jahre Befreiung vom Faschismus. Um 19 Uhr betonen etwa zwanzig Mitglieder der Gruppe „III. Weg“ auf dem Stachus, dass das Kriegsende 1945 nicht Befreiung, sondern Niederlage war. Sie werden von über Hundert Polizisten beschützt, denn viele Antifaschist*innen sind vom Marienplatz hierher ge-
zogen, um gegen Rechts zu protestieren.5

Am 10. Mai 1933 verbrannten auf dem Königsplatz 50.000 Nazis und ihre Mittäter Bücher von Bertolt Brecht, Heinrich Heine, Mascha Kaleko, Thomas Mann, Anna Seghers, Stefan Zweig und vielen anderen. An diesem Jahrestag lassen die Künstler Wolfram P. Kastner und Martin Mohr am authentischen Ort am 10. Mai eine mahnende Brandspur im Rasen des Königsplatzes sichtbar werden. Mittels eines Gasbrenners. Wie seit 1995. Genehmigt vom Kreisverwaltungsreferat. Ohne Genehmigung kommen in eigener Verantwortung und ganz absichtlich ca. 50 Personen auf den Platz,  mit Büchern von AutorInnen, die den Nazis als „undeutsch“ galten  und die sie für alle Zeit aus der Literatur dieses Landes „ausmerzen“ wollten. Ohne Mikrofon und Lautsprecher lesen einige vor: Der Filmemacher Christian Weisenborn liest einen Text seines Vaters Günther Weisen-
born, dessen Bücher von den Nazis verbrannt und er selbst wegen seines Widerstands zum Tode verurteilt wurde. Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch liest aus Heinrich Heines „Almansor“ Der Landtagsabgeordnete Florian von Brunn liest Kurt Tucholsky, Oliver Leeb liest Oskar Maria Graf, Silvie-Sophie Schindler liest Stefan Zweig. Gelesen werden u.a. Texte von Elisabeth Castonier, Heinrich Mann, Alfred Polgar, Erich Kästner, Rosa Luxemburg. Wegen der aktuellen amtlichen Infektionsschutzverordnungen ist die Lesung in der bisherigen Form mit vielen Beteiligten nicht möglich. Daher finden weitere Lesungen aus verbrannten Bü-
chern im Netz statt. Siehe https://lesungausverbranntenbuechern.de/wordpress/lesung-2020/

Am 24. Juli werden vor dem Eingang zum Gefängnis Stadelheim drei Gedenktafeln enthüllt, die an den Ort als Teil des NS-Verfolgungsapparats und als zentrale Hinrichtungsstätte des süddeutschen Raums erinnern. Fast 1.200 Menschen wurden hier vor allem während der Kriegszeit hingerichtet, darunter auch 75 Frauen. Dem Leiter der JVA, Michael Stumpf, war es ein besonderes Anliegen, dieses Gedenken noch im 75. Jahr nach der Befreiung zu realisieren; die großen Eisenplatten mit den Texttafeln wurden in den eigenen Häftlingswerkstätten gefertigt. In ihrer Ansprache bei der Feierstunde berichtet Heidi Delbeck, Tochter eines zum Tode verurteilten, aber dem Henker ent-
kommenen Widerständlers von den großen Schwierigkeiten bei der „Spurensuche“ nach der Le-
bensgeschichte der Verfolgten, vom Weiterwirken der Verfolgungsgeschichte in den Familien und vom jahrzehntelangen Desinteresse der Öffentlichkeit.

Vom 1. bis zum 30. November gibt es eine Vielzahl von Veranstaltungen zum 82. Jahrestag des 9. November 1938. Siehe https://www.gedenken9nov38.de/.

Alte, unreflektierte Rituale: Wie jedes Jahr läßt die Stadt München auch dieses Jahr vor Krieger-
denkmälern Kränze niederlegen. Die Initiative Giesing Denk(t)mal (H.P. Berndl, Dr. Herbert Dandl, Gabi Benkert, Anita Hilbig, Wolfram P. Kastner, Elfi Padovan, Hans Joachim Proft und Wolfgang Stöger) leistet am 13. November „Amtshilfe“ und transportiert den Kranz, der vor dem Giesinger Kriegsmonument abgelegt worden war, zurück ins Münchner Rathaus mit der Empfeh-
lung, denselben doch einer sinnvolleren Verwendung zuzuführen.


HP Berndl, Wolfram P. Kastner und Roland Krack verwandeln am Sonntag, 15. November, dem so genannten Volkstrauertag, das Kriegerdenkmal der Bundeswehr an der Dachauer Straße/Ecke Hedwig-Dransfeld-Allee in ein „Friedenszeichen“. Das Denkmal wurde 1922 errichtet, den Solda-
ten der bayrischen Eisenbahntruppe gewidmet, die im Ersten Weltkrieg getötet wurden, 1945 zer-
stört und 1962 wieder aufgebaut. Kastner intervenierte zunächst 2015, vom zuständigen Bundes-
ministerium wurde eine „friedliche Ergänzung“ des Denkmals mit der Begründung, es sei ein „Sachzeugnis“, das „unverändert erhalten“ bleiben müsse, abgelehnt. Kastner und Freunde ließen mit Aktionen nicht locker, so dass im folgenden Jahr die Bundeswehr zusagte, eine „erklärende Informationstafel zur historischen Einordnung“ anzubringen, was aber nie geschah. 2020 ver-
zichtet die Bundeswehr zum ersten Mal darauf, das Denkmal mit Kränzen zu dekorieren. Berndl, Kastner und Krack: „Wir sind nun der Bundeswehr zur Hilfe gekommen und gehen davon aus, dass die Verantwortlichen der Bundeswehr unser Transparent zumindest solange dort belassen, bis das Kriegerdenkmal durch entsprechende Maßnahmen zu einem dauerhaften Friedenszeichen geworden ist. Unsere Unterstützung haben wir bewiesen und wir erwarten eine dementsprechende Revision der bisher ergangenen bayrischen Urteile durch das Bundesverfassungsgericht.“

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Verteilerkasten in der Westendstraße am 15. November


1 Siehe https://www.memorygaps.eu/gap-januar-2020/

2 Siehe https://www.rationalgalerie.de/home/das-auschwitz-narrativ.html.

3 Siehe https://www.memorygaps.eu/gap-februar-2020/

4 Siehe www.reichenbach-anschlag.de.

5 Siehe die Bilder der Kundgebung „tag der befreiung I“ vom 8. Mai von Peter Brüning und „tag der befreiung II“ von Günther Gerstenberg. Siehe auch „Rechtsextremismus“ 2020.

6 Foto: Franz Gans

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Gedenken