Flusslandschaft 2020

Medien

Es grummelt in der Stadt. Gerüchte schwirren. Bis jetzt haben wir es immer nur geahnt, jetzt wissen wir es. Städtische Institutionen sind von Linksextremisten infiltriert. Sogar jenseits der weiß-blauen Grenzpfähle wird darüber berichtet. Die Frankfurter Allgemeine spricht von „Stra-
ßenkampf“ und Unser Tirol fragt sich besorgt, ist Franz Josef Strauß „eine belastete Person“? Was ist geschehen? 2016 hat der Stadtrat das Stadtarchiv beauftragt, zu prüfen, welche Straßen einen Namen tragen, der in einem „chauvinistischen, extrem frauenfeindlichen, militaristischen, rassi-
stischen oder antisemitischen, nationalsozialistischen Kontext“ stehen. Eine Arbeitsgruppe unter Andreas Heusler begann daraufhin zu recherchieren, versah von 6.117 Straßennamen 320 mit einem Kommentar und erstellte eine Liste von 40 Straßennamen, in der zum Beispiel die Wiß-
mannstraße, die Dominikstraße, die Von-Gravenreuth-Straße, die Bennigsenstraße oder die Hilb-
lestraße in Neuhausen als Kandidaten für eine Umbenennung aufgeführt sind.1

Und da wird mit atemberaubender Geschwindigkeit ein Skandal daraus. Ein Abendzeitung-Repor-
ter entdeckt im Januar 2020, dass Werner von Siemens („Siemensallee“) mit seiner Firma vom Nationalsozialismus profitiert habe, da in ihr während der NS-Zeit Zwangsarbeiter eingesetzt wor-
den waren; über Franz Josef Strauß sei unter anderem vermerkt: „Faible für afrikanische Autokra-
ten“. Der Reporter wendet sich an den CSU-Generalsekretär und fragt ihn, was er dazu meine. Dieser verfällt in Schnappatmung, hält das für einen „skandalösen Vorgang“ und forderte OB Reiter, den Dienstherrn des Stadtarchivs, dazu auf, „den Unsinn zu beenden und sich zu entschul-
digen“.2 Am 11. Januar titelt die sensationslüsterne BILD auf Seite 3: „Hier ist die Politik auf dem Holzweg! Hunderte Straßennamen in München sollen politisch zweifelhaft sein.“ Andreas Heusler, seit 1994 im Stadtarchiv Sachgebietsleiter für Zeitgeschichte/Jüdische Geschichte, wird im Artikel überraschend zum Leiter des Stadtarchivs befördert, die Zusammenstellung auf der Liste der Na-
men wird als wirr bezeichnet, den „reihenweise berühmten und verdienten Persönlichkeiten“ würden „zum Teil absurde Verfehlungen vorgehalten“. Der CSU-Generalsekretär versichert dem Blatt: „Die CSU München wird dafür sorgen, dass derart abstruse Vorschläge nicht weiterverfolgt werden. Wir lassen nicht zu, dass herausragende Persönlichkeiten wie Franz Josef Strauß in den Schmutz gezogen werden.“ Und Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich (CSU) legt nach: „Hier wird George Orwells Vision aus ‚1984‘ Realität: Geschichte soll systematisch umgeschrieben und dem Zeitgeist angepasst werden.“3 Die Junge Freiheit springt auf den Zug auf4 und die Volks-
seele kocht in den (un-)sozialen Medien des www über den zeitgeistlichen Meinungsterror aus den linksversifften Institutionen der bayrischen Landeshauptstadt.5

In München-Freimann forschen und entwickeln hochqualifizierte Ingenieurinnen und Ingenieure an der Rundfunk- und Medientechnik von morgen. Ob Stereofernsehen, Verkehrsfunksystem ARI, VPS für den Videorecorder, Digital Radio DAB, das Mikrofon am Rednerpult der Deutschen Bun-
destags, die Red Button-Funktion beim SmartTV-Gerät und vieles mehr.6 Genau dieser For-
schungseinrichtung, dem Institut für Rundfunktechnik (IRT), wurde mit Wirkung zum 31. Dezem-
ber 2020 von all seinen Gesellschaftern ARD, ZDF, ORF, SRG/SRF und DRadio gekündigt. Die Entscheidung kam völlig überraschend und wurde durch die Kündigung eines Gesellschafters – des ZDF – ausgelöst. Die übrigen Gesellschafter zogen nach, weil sie sich nicht in der Lage sehen, die entstehende Finanzlücke zu schließen. Noch im Herbst 2019 wurde, gemeinsam mit allen Rundfunkanstalten, ein Zukunftskonzept erarbeitet, das Maßnahmen vorgesehen hat, um die Ef-
fizienz zu steigern und sich zugleich auf die neuen digitalen Herausforderungen für den Rundfunk zu fokussieren: Künstliche Intelligenz, 5G, IP-Vernetzung heutiger und künftiger Produktionspro-
zesse, Neue Audio- und Video-Technologien, Barrierefreiheit und Standardisierung in den Zeiten von Mediatheken. – Die plötzliche Schließung ist weder fachlich noch betriebswirtschaftlich nachvollziehbar. Wenn jetzt nichts passiert, verliert Deutschland nicht nur die seit 1956 bestehen-
de Gemeinschaftseinrichtung von ARD und ZDF, sondern Österreich (ORF) und die Schweiz (SRG/SRF) auch ihr einziges technologisches Forschungszentrum, das die Rundfunkinteressen in nationalen und internationalen Gremien vertritt und Zugangsoffenheit, Spektrumsnutzung, In-
teroperabilität und Lobbyarbeit sicherstellt. Mit der Schließung des Instituts verliert vor allem aber auch Europa einen wichtigen Partner, der tatkräftig in der Ausarbeitung internationaler Standards mitwirkt und dabei hilft, den Wettbewerb im Markt zu fördern, Herstellerabhängigkeiten zu ver-
meiden und für eine Kostenkontrolle zu sorgen. Mit seinem Gründungsgedanken „der Allgemein-
heit zu dienen und keine gewerblichen und wirtschaftlichen Ziele verfolgen“ verfolgt das neutrale Forschungsinstitut bereits seit über 60 Jahren eine Zielsetzung, die gerade in Zeiten von amerika-
nischen und chinesischen Internetriesen, Fake-News und Bots gültiger und wichtiger denn je ist und eine gezielte und forschungsbasierte, enge Zusammenarbeit auf europäischer Ebene unab-
dingbar macht. Über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden ihre Jobs verlieren, bewährtes und international anerkanntes Know-how wird in die freie Wirtschaft abwandern, wo es für teures Geld wieder eingekauft werden muss. Die Entscheidungsträger werden Ende Februar über das weitere Schicksal des IRT beraten. Vielleicht werden sie von einer erfolgreichen Petition beein-
druckt …7

(zuletzt geändert am 19.2.2020)


1 Friedrich Hilble, der Leiter des städtischen Wohlfahrtsamtes bis 1937, hat unter anderem die Sozialhilfe für zahlreiche Juden verweigert und war direkt und indirekt an der Deportation jüdischer Mitbürger und sogenannter „Asozialer“ in Konzentrationslager beteiligt. Mehr dazu unter https://www.freitag.de/autoren/memory-gaps/muenchner-strassen-ein-voelkischer-diskurs.

2 https://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.liste-mit-40-namen-wirbel-um-umbenennung-stadtrat-entscheidet-ueber-strassennamen.8286b8fe-f0e9-479c-89c3-d77cdf82ce33.html

3 Bild Deutschland vom 11. Januar 2020, 3.

4 https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2020/kommission-beanstandet-zahlreiche-muenchner-strassennamen/

5 Siehe zum Beispiel https://t.me/s/nixgut?before=3733 oder https://www.facebook.com/pg/2017.afd/posts/.

6 Siehe https://www.irt.de/de/irt/historie/evolution-in-der-medientechnik.

7 Siehe https://weact.campact.de/petitions/das-institut-fur-rundfunktechnik-muss-erhalten-bleiben.

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Medien