Flusslandschaft 1974

AusländerInnen

Kinder spanischer Migranten sollen nach dem „bayerischen Modell“ vor allem in ihrer Heimat-
sprache unterrichtet werden. Die Eltern protestieren und verlangen deutschsprachigen Unter-
richt.1

In der Siedlung am Hart befinden sich in der Karlsteinstraße Notunterkünfte für Flüchtlinge, Gastarbeiter und Zuwanderer, in der Prager Straße wohnen vor allem Russen, deren Kinder nicht einmal in die Schule dürfen, sondern in einem Kellerraum unterrichtet werden. Immer mehr Men-
schen fordern jetzt Integration statt „Käfighaltung in einem Ghetto“ mit Kriminalität, hoher Selbst-
mordrate und schlechten Bildungsabschlüssen. — Der Münchner Kunstverein zeigt die Ausstellung „Poesie muss von allen gemacht werden. Verändert die Welt!“ und gibt den Anstoß zur Gründung der Sozialen Selbsthilfekomitees. Um Haimo Liebich, den Geschäftsführer und Ausstellungsleiter des Kunstvereins, Herbert Becke und Jürgen Höflich entsteht die Arbeitsgemeinschafr Buhlstraße, die sich zum Ziel setzt, zur katastrophalen Lage der AusländerInnen eine Alternative zu entwik-keln. Erst zeigt die Arbeitsgemeinschaft Filme und organisiert Spiele mit den Kindern, dann beset-zen die Jugendlichen eine alte Schreinerei, die abgerissen werden soll, schließlich entsteht das er-ste Mehrgenerationenhaus. Die Arbeitsgemeinschaft, der erste selbständige Verein, der keinem Verband und keiner karitativen Einrichtung angeschlossen ist, wird zum Münchner Vorreiter in Sachen Integration.2

Eine herausragende Rolle in der stadtteilpolitischen Organisierung von Migranten spielt das unter Trägerschaft des evangelischen Dekanats München gegründete Griechische Haus in der Berg-
mannstrasse im Westend.

Nachdem die Bundesregierung ankündigt, das Kindergeld für im Ausland lebende Kinder von MigrantInnen zu kürzen bzw. einzustellen, entstehen in zahlreichen Städten — auch in München — „Kindergeldkomitees“. Auf Demonstrationen wird „Gleiches Kindergeld für alle“ gefordert.3

1974 leben 4,13 Millionen ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter in der BRD. Clarissa Höschel: „Zu Beginn der 1970er Jahre werden die Rufe nach einer Vertretung der ausländischen Arbeitneh-
mern im lokalpolitischen Geschehen immer lauter und es entstehen Gruppen und Gruppierungen, die sich mit der Situation der Ausländer beschäftigen und deren Probleme thematisieren. Haupt-
kritikpunkt ist die soziale Ungleichheit zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitskräften, die sich, so die Betroffenen, seit dem Inkrafttreten des Ausländergesetzes von 1965 noch verschärft hat. Was die wirtschaftliche Ausbeutung der ausländischen Arbeitskräfte betrifft, so zeigt sich diese vor allem in geringeren Löhnen, immer noch unbefriedigenden Wohnverhältnissen und der ständi-
gen Angst vor Ausweisung.“ — Der Ausländerbeirat, der fortan stadtweit für die Belange von Aus-ländern eintreten soll, nimmt am 23. November 1974 seine Arbeit auf. Clarissa Höschel: „Der erste Ausländerbeirat hatte 39 Mitglieder, von denen 26 ausländische Vertrauensleute und Personalräte waren, die durch ein Wahlmännergremium gewählt wurden. Vorsitzender war der Kroate und Be-triebsrat Oskar Frankovic. Hinzu kamen 12 deutsche Mitglieder und ein städtischer Beamter als Geschäftsführer. Die Amtszeit dieses ersten Ausländerbeirats dauerte bis zum 16. Mai 1979. Da-nach wurde die Satzung geändert und die Wahl durch ein Wahlmännergremium abgeschafft. Die Mitglieder des nächsten Ausländerbeirates wurden nun von in der Ausländerarbeit tätigen Institu-tionen vorgeschlagen und vom Stadtrat berufen. Die dritte Amtszeit des Ausländerbeirates begann am 25. Juni 1984 mit 27 ausländischen und acht deutschen Mitgliedern. Am 5. Juli 1989 wurde der Ausländerbeirat zum letzten Mal für eine Übergangszeit bis zur Direktwahl des Ausländerbeirates durch die ausländische Bevölkerung Münchens berufen.“4 Seit 1991 wird der Ausländerbeirat in Direktwahl von allen Migrantinnen und Migranten Münchens gewählt, jeweils für einen Zeitraum von 6 Jahren. Nebenbei: Der Ausländerbeirat ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, die eigentliche Forderung bleibt aber bestehen: Kommunales Wahlrecht für alle in München lebenden Menschen.


1 Siehe „Spanischer Ergänzungsunterricht“ von Clarissa Höschel.

2 Siehe auch www.ag-buhlstrasse.de.

3 Vgl. Simon Goeke: „‚Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hand’ — Von protestierenden Gästen und multinationa-len Revolutionär/innen“ in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kul-turreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 123.

4  www.emigrantesespanolesmunich.blogspot.com/