Materialien 2020
Erschießungen und Hetzjagd - Die Faschisierung des EU Grenzregimes
Es häufen sich Nachrichten von Menschen, die an der griechisch-türkischen Landgrenze von grie-
chischen Grenzschützern erschossen werden. In sozialen Netzwerken ist die Rede von 7 Personen, die mit Schusswunden ins Krankenhaus gebracht wurden, Videos zeigen Tote. Der erste Fall, die Erschießung eines jungen Syrers am Montag ist von Forensic Architecture bereits detailliert ana-
lysiert worden. Sogenannte „Schießübungen“ werden von der Küste von Lesbos ins Meer angekün-
digt. Zeitgleich gibt es immer mehr Berichte von Fliehenden, die auf dem Ägäischen Meer brutal von Maskierten in Zusammenarbeit mit der griechischen Küstenwache angegriffen werden. Die Motoren ihrer Schlauchboote werden zerstört, Boote auf offenem Meer aufgestochen, Boote durch Bugwellen fast zum Kentern gebracht und sogar Menschen in Schlauchbooten angeschossen. Ein Kind ertrinkt.
Hinzu kam die Ankündigung der griechischen Regierung, das Asylrecht einfach außer Kraft zu set-
zen. Ca. 500 auf Lesbos angekommene Personen wurden im Hafen der Hauptstadt Mytilene kon-
zentriert und sollen direkt abgeschoben werden, ohne jegliches Verfahren. Einige hatten tagelang an den Küsten ausgeharrt und wurden dann schließlich zur geplanten Abschiebung in den Hafen gebracht.
Derweil ist auf Lesbos die Hölle der faschistischen Gewalt ausgebrochen. Rechtsradikale Schläger-
trupps beherrschen die Insel, sie jagen Migrant*innen und haben entlang der Straßen Blockaden errichtet. Autos werden danach kontrolliert, ob ihre Insassen griechisch sind, wenn nicht, werden sie angegriffen und Scheiben zertrümmert. Die Eskalation von Protesten begann, als die griechi-
sche Regierung versuchte, den Bau neuer geschlossener Lager auf den Inseln durchzusetzen. Im-
mer mehr NGO-Mitarbeiter*innen werfen nun das Handtuch und verlassen die Insel. Menschen wurden verletzt, ihre Fotos werden von Faschisten auf Facebook geteilt und sie werden zur Hetz-
jagd ausgeschrieben. Selbst das UN-Flüchtlingshilfswerks bleiben nicht verschont. Seenotrettungs-Teams, die seit Jahren Migrant*innen an der Küste erstversorgt haben, werden nun gejagt und auch von der Polizei an ihrer Arbeit gehindert. Rechte Gruppen verhindern, dass Geflüchtete an-
landen und die Boote verlassen können.
Fazit: Brachiale Gewalt und Erschießungen von Menschen in Europa; es wäre zu erwarten, dass die Täter wegen Mordes auf die Anklagebank gesetzt würden. Man könnte meinen, dass die Ausset-
zung des Grundrechts auf Asyl, welche die Europäische Menschenrechtscharta und Genfer Flücht-
lingskonvention in den Staub tritt, ein Skandal ist und von der EU scharf sanktioniert würde. Oder dass sich die EU entsetzt über die entfesselte Gewalt von Faschisten gegenüber ihren eigenen Hilfs-
organisationen äußert.
Doch nichts von alledem. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen scheinen Erschießungen in-
nerhalb Europas nicht übermäßig zu beunruhigen. Sie dankt Griechenland dafür, das „europäische Schild“ zu sein, denn diese „Grenze ist nicht nur eine griechische Grenze, es ist auch eine europä-
ische Grenze” und verspricht Griechenland 700 Millionen Euro Unterstützung. Die Grenzaufrü-
stung soll noch verstärkt werden, durch einen Rabit-Einsatz der europäischen Grenz- und Küsten-
wachenagentur Frontex.
Das ewige Mantra, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, hat sich so tief in die Köpfe eingebrannt, dass jede Eskalationsstufe recht ist, solange keine Flüchtlinge nach Europa kommen. Dies zeugt nicht nur von realitätsferner Panikmache, sondern von einer faszinierenden Naivität. Die EU gibt mit ihrer gewalttätigen Abschottungspolitik nicht nur ihre vielbeschworenen menschenrechtlichen Grundwerte der Lächerlichkeit preis, sondern lässt sich zum Spielball der Regierung Erdogan ma-
chen.
Mit einer ausgefeilten Pressestrategie wurden Geflüchtete auf Betreiben der türkischen Regierung aus Abschiebegefängnissen freigelassen und Bustransporte an die Evros-Grenze und an die türki-
sche Küste organisiert. Ablegende Boote wurden durch das Staatsfernsehen gefilmt und als Dro-
hung in Richtung EU geschickt. Es war ein militärischer Gegenschlag im syrischen Krieg. Die Waf-
fe: Flüchtlinge, deren Schicksale skrupellos missbraucht werden. Die türkische Regierung stiftet Chaos, um die EU und die Nato zu erpressen, sie im Krieg in Syrien zu unterstützen.
Doch viel erschreckender als die türkische Machtpolitik ist die Hilflosigkeit der EU: Die ca. 13.000 Personen an der Grenze aufzunehmen wäre für die EU mit fast 450 Millionen Einwohner*innen ein Klacks und juristisch geboten. Doch heute lässt die EU lieber Schutzsuchende erschießen, als ihr Abhängigkeitsverhältnis zu Erdogan zu lösen. Ihr Kardinalsfehler war der Beschluss des EU-Türkei Deals, an dem sie eisern festhält. Anstatt aus den fatalen Fehlern zu lernen, spricht der Ar-
chitekt des Deals Gerald Knaus nun von einer „Übereinkunft 2.0 zwischen der EU und der Türkei“. Denn die europäische Grenzpolitik basiert in ihren Grundfesten auf Erpressbarkeit – Abhängig-
keiten von autoritären Regimen, die die Drecksarbeit für sie erledigen. Kommt dieses Verhältnis ins Wanken, wird für alle sichtbar, dass diese Politik auf dem Fundament von Entrechtung gebaut ist. Menschen an der Grenze zu erschießen ist nur die letzte logische Konsequenz einer Politik, in der der Zugang zum Asyl systematisch verweigert wird.
Dabei verkennt die EU die eigentlichen Gefahren: Ihre Politik führt nicht nur zum Tod von Flie-
henden, sondern auch zur Faschisierung Europas. Es führt eine direkte Linie von den rassistischen Morden in Hanau zur faschistischen Hetzjagd auf Lesbos. Nur wenig überraschend ist daher, dass rechtsradikale Netzwerke in Deutschland dazu aufrufen, in den Kampf an die EU-Außengrenze zu ziehen und Menschen zu jagen.
VH
zugeschickt am 5. März 2020