Materialien 1978

Die Täter werden immer jünger

Zum Ansteigen krimineller Neigungen gesellt sich politischer Extremismus. Von Dieter Baacke

… Man fragt auch nach den politischen Wirkungen. In einer Studie des Bundesinnenministeriums zum Entstehen linksextremistischer Einstellungen wird festgestellt: 1,5 Millionen der 16- bis 50-
jährigen sind unter Umständen bereit, auch „unkonventionelle" Protestmaßnahmen durchzufüh-
ren, bis hin zu wilden Streiks oder der Besetzung von Ämtern. Eine relativ große Gruppe meist junger Menschen ist „relativ leicht mobilisierbar“. Besondere Kennzeichen des vorhandenen „Pro-
testpotentials“: Es handelt sich in der Regel um überdurchschnittlich junge Personen mit häufig guter Schulbildung. Der hohe Anteil von Konfessionslosen und Ledigen fällt auf. Die Studie kommt zu dem Fazit, dass der Anteil der unzufriedenen 16- bis 25jährigen besonders stark ist.

Unzufriedenheit aber ist der Ausgangspunkt für Proteste – auch und gerade für solche, die sich nicht mehr ausschließlich durch die Verfahren einer repräsentativen Demokratie legitimieren lassen. Insgesamt scheint es so zu sein, dass der „Drang zur Mitte“ für Jugendliche weniger gilt. Wildenmann berichtet im Capital über eine Untersuchung 18- bis 23jähriger. Ein Drittel der Jungwähler würde danach Protestparteien wie die Anti-Steuer-Partei des Dänen Glistrup wählen; Strauß ist bei den Jungwählern beliebter als bei allen anderen Alters- und Statusgruppen.

Es liegt auf der Hand, dass viele dieser Zahlen ambivalent zu werten sind. Könnte man es z.B. nicht als erfreulich ansehen, dass unter den Jugendlichen wieder etwas in Bewegung kommt, die allzu etablierte Parteienlandschaft zu Reaktionen herausgefordert wird? Ist es nicht notwendig, dass wir lernen, uns auch mit härteren Formen des Protests auseinanderzusetzen – wenn die Sensibilisie-
rung für Ungerechtigkeiten groß geworden ist? Freilidr müsste man, um solche Argumente zu ge-
wichten, vieles genauer wissen.

Handelt es sich denn tatsächlich um politische Einstellungen bei den Jugendlichen, für die „Ruhe und Ordnung“ nicht mehr erste Bürgerpflicht ist? Welche Art von Anarchismus vertreten sie – einen humanistischen, gesellschaftsbezogenen, oder einen vandalistischen, auf Selbstzerstörung drängenden? Die Daten zeigen Trends, Chancen, aber mehr Gefahren. Sie liefern keine Interpre-
tation, erst recht keine Handlungsperspektiven.

Wieviel Geduld kann dem Bürger abverlangt werden?

Die jetzt Heranwachsenden wenden sich gegen eine verwaltete, institutionalisierte, im Sinn von Handlungen vorenthaltene Welt. Warum gerade sie? Zum einen wohl darum, weil der bürokrati-
sche Perfektionismus hochentwickelter Industriegesellschaften immer bedrängender wird. Wir haben für alles Verfahren, Prozeduren, Wege und Lösungen. Fragt sich nur, mit welchem Niveau an hoffnungsvoller Erwartung man einen „langen Marsch durch die Institutionen“ anzutreten in der Lage ist.

Wichtig ist: Es sind immer Kleinigkeiten, durchaus konkrete Anlässe, an denen eine Überinstitu-
tionalisierung unserer Welt erfahren wird. Wenn Jugendliche um ein „Freizeitheim“ kämpfen, es schließlich sogar erreichen, mit Hilfe des Fernsehens mit Kommunalpolitikern zu diskutieren – und nach zwei Jahren immer noch kein Freizeitheim entstanden ist, dann werden sich diese Ju-
gendlichen mit Recht fragen, ob sie den richtigen Weg gegangen sind. Welches Maß von Geduld ist einem Staatsbürger zuzumuten, wenn es um ihn bedrängende Lebensprobleme geht?

Dies gilt beispielsweise – um einen anderen Sektor zu erwähnen – auch für die Schulen. Sind Schulreifetests, ergänzt durch längere Beobachtungswochen, nun „gerechter“? Oder ist es nicht vielmehr so, dass Kinder, die nach diesen Prozeduren dann doch wieder ausgeschult werden, nun wirklich zu den diskriminierten gehören?

Es ist gerade dies: Die scheinbare Rationalität, Durchdachtheit und Nüchternheit vieler Prozedu-
ren und die tatsächlich erfolgenden widersinnigen Resultate, das von Jugendlichen leicht als la-
tente Terrorstruktur interpretiert werden könnte. Man muss dies bedenken, um zu sehen, woher politische Apathie kommen kann. Oder auch ein nach außen gerichteter, zerstörerischer Terroris-
mus, dem in der Regel .die personale Selbstzerstörung der Terroristen vorangegangen ist.


Vorwärts 10 vom 9. März 1978, 27.

Überraschung

Jahr: 1978
Bereich: Jugend