Materialien 1970
„Direkte Aktionen“ im Namen der Kunst?
Das Abstimmungsergebnis in der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Münchner Kunstvereins am 15. September 1970 wird von einem Teil der Presse als Sieg der Freiheit über staatliche Repression gefeiert. Die Argumentationen des abgewählten Vorstandes wirkten tat-
sächlich hilflos. Er war ganz offensichtlich nicht für den politischen Blitzüberfall geschult, kannte nicht die Spielregeln des politischen Kampfes, der von den ikonoklastischen Apo-Ideologen aus Überdruss an der Demokratie nun auch in die Kunstausstellungssäle getragen wird.
Dabei war die vom Vorstand beanstandete „Dokumentation“ als Anhang zur Ausstellung „Poesie muss von allen gemacht werden! Verändert die Welt!“ leicht zu entlarven: Sie zählte zu jenen „di-
rekten Aktionen“, die Ortega die „Magna Charta der Barbarei“ genannt hat. Zu ihren Methoden gehört die rücksichtslose öffentliche Diffamierung des Gegners, die seinem Ansehen schaden und seine Nerven zermürben soll. Jeder Einwand, dass damit die Grenzen überschritten werden, die der Rechtsstaat der freien Meinungsäußerung zugestehen kann, wird äußerst gereizt als unerlaub-
ter Angriff auf die künstlerische Freiheit, ja als faschistische Bevormundung beschimpft.
Es heißt die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Vorstellung von der Freiheit des Künstlers ad absurdum führen, wenn es längst nicht mehr um Kunst, sondern nur noch um die Durchsetzung politischer Ziele geht. Die mit Reformverlangen getarnte radikale Politisierung aller Lebensberei-
che, auch der Kunst, zielt ja gar nicht auf den Abbau überholter autoritärer Strukturen, woran so viele Mitläufer immer noch glauben, sondern auf die Unterminierung und den Sturz der bestehen-
den Ordnung. Joseph Beuys, Professor an der Düsseldorfer Akademie, legte kürzlich das freimüti-
ge Bekenntnis ab: „Anarchie ist die endgültige Verwirklichung der Menschenrechte.“ Es ist un-
glaublich, mit welcher Indifferenz die meisten, auch die staatlichen Instanzen, diesen Gefahren gegenüberstehen.
Natürlich gibt es auch politische Kunst, aber eben nur dann, wenn Inhalt und Form, Gesinnung und Leistung in Einklang stehen. Dieser Einklang bestand bei den Exponaten im Kunstverein jedenfalls nicht. Ich zweifle allerdings daran – und das war auch das Fazit eines Podiumsgesprä-
ches über „Kunst und Politik“ vor einigen Monaten in Karlsruhe – dass politische Kunst im Zeital-
ter der Massenmedien überhaupt noch effektiv sein kann. Diese Zweifel meldete Sartre schon vor Jahren an, als er schrieb: „Und das Blutbad von Guernica, dieses Meisterwerk, glaubt man, es hätte einen einzigen für die spanische Sache gewonnen?“ Der Kunst kann in unserer pluralistischen Ge-
sellschaft überhaupt keine einheitliche Funktion zugewiesen werden.
Aber wie schon gesagt, es geht den Revolutionären ja gar nicht mehr um Kunst. Wolf Vostell, Deutschlands Happening-Spezialist Nr. 1, der fest an die gesellschaftsverändernde Macht der Kunst glaubt, schlug in der Karlsruher Diskussion vor, dass sich Künstler zwei Monate lang ins Museum setzen und vom Museum aus, per Telefon, das Volk politisch beraten sollten. Seine Pro-
gnose lautet: „Information ist die Kunst der siebziger Jahre.“ Politische Agitation aber ist noch keine Kunst. Solange wir von Kunst sprechen, müssen wir die Rangfrage stellen. „Das Erkennen der Rangstufe, der künstlerischen Qualität, aber hängt von der Qualität des Betrachters ab“ (Hans Jantzen). Die meisten genieren sich nicht zuzugeben, dass sie unmusikalisch sind; optisches Un-
vermögen aber gestehen leider nur wenige ein. Deshalb ist das Niveau der heutigen Dauergesprä-
che über bildende Kunst oft so erbärmlich.
Im Grunde geht die Anti-Kunst-Bewegung seit über einem halben Jahrhundert von der Doktrin aus, das Weltzeitalter der Kunst liege zusammen mit der bürgerlich-kapitalistischen Epoche im Sterben. Schon Mondrian sagte: „Kunst ist nur ein Substitut solange die Schönheit des Lebens mangelhaft ist. Sie wird verschwinden im Maße das Leben an Gleichgewicht gewinnen wird.“ Die „allgemeine Kulturrevolution“ basiert auf der schon bei Hegel implizierten, bei Adorno expressis verbis formulierten Überzeugung, dass eine neue konfliktfreie Gesellschaft die Kunst überflüssig machen werde. Dann aber doch endlich ehrlich sein und offen eingestehen, dass wir gar keinen Kunstverein mehr brauchen, dass es in unserer übervölkerten und von Hass erfüllten Welt wich-
tigere Dinge zu tun gibt, als Kunst zu machen. Das wäre jedenfalls ein achtenswerter Standpunkt. Solange aber von Kunst die Rede ist, gehört es zu ihren vornehmsten Aufgaben, „die Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters zu unterhalten, und zwar auf sinnliche Weise und heiter“ (Bert Brecht).
Prof. Erich Steingräber, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen
München 2, Meiserstraße 10
Süddeutsche Zeitung 231 vom 26./27. September 1970.