Materialien 1991

Humanismus statt Intellektualismus

I

Ist derjenige, der sich der vom FORUM WISSENSCHAFT initiierten Diskussion über »Linksintel-
lektualismus« stellt, per se schon jenem Kreis zuzuordnen, der sich allzu gerne dieses Mäntelchen umhängen lässt? Vielleicht hat die Verwendung des Begriffs tatsächlich einmal ihre Berechtigung gehabt, als sich in dem Konsens dieser Begrifflichkeit das Selbstwertgefühl entwickeln konnte, das dem Nonkonformismus von Geistesarbeitern in einem postfaschistischen Staat entsprochen hat. Aber allzu bald musste eine Affinität von Geist und Macht offenbar werden: Hat sich das jemals wirklich miteinander vereinbaren lassen, Teil der geistigen und politischen Avantgarde zu sein und zugleich seine sozialen Privilegien gesichert zu wissen in dieser Gesellschaft und in diesem Staat? Muss nicht der soziale Status die Intelligenz, die wissenschaftlich-technische zumal, in die Nähe der herrschenden Ideologie und damit auch der politischen Macht führen? Nun macht sich Verun-
sicherung, wenn nicht Bestürzung breit darüber, dass die, die vormals im Schein der geistigen Überlegenheit die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen der BRD ästhetisierten, den ge-
ordneten Rückzug von den gepflegten Diskursen antreten.

II

Kurz gesagt hat sich »Linksintellektualismus« mit dem Bewusstsein einer kritischen Distanz zum gesellschaftlichen Sein zufrieden gegeben, ohne dieses selbst in praxi verändern zu wollen. Es hat ihm offenbar genügt, im Besitz der wahren Methode der Kritik zu sein, allein in der Theorie recht zu haben, das Weltverändern aber den anderen zu überlassen. Schon längst hat der theoretische Anspruch dieser Position in der Praxis und durch die Praxis erfahren müssen, dass er nicht einlös-
bar ist. Nicht der homo sapiens, der homo faber bestimmt die Weltveränderung, so dass das Leit-
motiv des Marxschen Denkens: nicht interpretieren, sondern verändern, obwohl es seine Berechti-
gung nicht verloren hat, neu zu bestimmen, zu interpretieren ist, etwa in dem Sinn, wie es der viel zu wenig beachtete Günther Anders versucht hat: ,,Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Verän-
derung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht wei-
ter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns.“
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Diese Position des konkreten Humanismus vermag weder den Schein der geistigen Überlegenheit westlicher Intelligenz aufrechtzuerhalten, noch an dessen »Rausch des Pessimismus« teilzuhaben. Die Sorge gilt nicht dem Niedergang eines gesellschaftlichen Systems, die Sorge gilt dem Werden einer anderen, nicht mehr bewohnbaren Welt. Allzu lange hat der West-Ost-Antagonismus in sei-
nen ideologischen, militärischen und politischen Dimensionen die Wahrnehmung dieser Weltver-
änderung erschwert. Nun ist offenkundig geworden, dass das sich als realer Sozialismus ausgeben-
de gesellschaftliche und politische System die Erde nicht bewohnbarer gemacht hat und nur den Spielregeln der anderen, ökonomisch überlegeneren Seite gefolgt ist.

III

Unsere Welt gerät nicht jetzt erst aus den Fugen. Schon lange ist im militärisch-strategischen Kal-
kül des nuklearen Schlagabtauschs der Untergang unseres Planeten hypothetisch angezeigt. Diese Position der militärischen Stärke offenbart mit der Perversion des vorausschauenden politischen Denkens zugleich die Krise der allgemeinen Moralität. Die weltweite militärische Rüstung er-
schwert oder verhindert in vielen Ländern die Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse der Menschen. Im konkreten Umgang des reichen Westens mit den Staaten der »Dritten Welt« zeigt sich die Menschenverachtung einer Machtpolitik, die noch immer nach den Kategorien ko-
lonialistischer Handlungsweise verfährt. Die Sorge vor der Überbevölkerung auf dem Planeten zeigt hierzulande zuallererst nur den Schrecken vor der drohenden »Menschenflut« aus dem Süden an. So sind denn auch die globalen Probleme, die ungelösten Fragen von Krieg, Unterent-
wicklung, Bevölkerungsdruck und sozialer Verelendung nicht eigentlich »unsere« Probleme.

Der Golfkrieg des Jahres 1991 hat die gewöhnliche Menschenverachtung potenziert. Es war dies ein Krieg des »realen Kapitalismus«, der, nachdem er den Gegenpart im Kampf um die Weltherr-
schaft ökonomisch besiegt hat, exemplarisch vorführen konnte, wie er die Prinzipien der neuen Ordnung durchzusetzen gedenkt. Zuletzt haben noch die Jubelfeiern in England und den USA das Ausmaß des Niedergangs von Ehrgefühl und Moralität erkennen lassen. Angesichts dieses Zynis-
mus ist allein Trauer noch angezeigt.

IV

Im Erwachen am Morgen zeigt sich Deutschland, die Welt nun im anderen Licht. Die Bloch‘sche Verheißung der Morgenröte für das Noch-Nicht des Kommenden scheint verflogen, und manch einer meint nun, den fahlen Glanz schon längst bemerkt zu haben. So scheint unter veränderter Perspektive die ganze Welt eine andere geworden, und für den, der sie mit anderen Augen erblickt, geht es nun darum, sich in ihr neu, wenn nicht gar wohnlich, einzurichten. Den kontrastreichen Konturen ist die Schärfe genommen: Was soll also noch das Hoffen auf ein besseres Morgen?

Es hätte sich also die Welt gewandelt? Wie denn, bestehen jene Verhältnisse etwa nicht mehr, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist? Ist also der Gefangene endlich frei, der Schwarze dem Weißen gleichgestellt und die Frau dem Mann, ist die Kinderarbeit nun abgeschafft, weil die Eltern gerecht entlohnt werden, und ist end-
lich der Krieg geächtet? Bestimmen also die Menschen. die Völker nun ihre Geschichte selber? Nichts von alledem hat sich ereignet. Die Welt schaut uns nur immer an, wie wir sie anschauen.

Es kommt darauf an. die Orientierung nicht zu verlieren, oben nicht mit unten, rechts nicht mit links zu verwechseln. Die Welt ist nicht anders geworden, nirgendwo hat sich mehr Humanität durchgesetzt. Die von der philosophischen Aufklärung angemahnte Pflicht zum Gebrauch der menschlichen Vernunft besteht weiterhin. Nur ist heute angezeigt, nach der Desavouierung der kritischen Theorie und der Idee des Sozialismus aus dem eurozentrischen Geisteskäfig auszubre-
chen und die globale Krise als Objekt unserer Besorgnis anzuerkennen. Die Antagonismen von gestern sind heute in der Einheit weltweiter Widersprüche aufgehoben.

V

Die Frage „Was tun“ kann gegenwärtig keine universelle Antwort erwarten lassen. Zu fragwürdig sind die traditionellen Systeme theoretischer Konzepte im Licht einer schlechten Praxis geworden, ja selbst die großen Ideen von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit erweisen sich schließlich als wenig tragfähig, wenn einem erheblichen Teil der Menschheit ein menschenwürdiges Dasein ver-
wehrt bleibt. So ist wohl das Nahe zuerst zu bedenken und damit das zu benennen, was sich als ein Konkretum erfahren lässt.

Das Bemühen um die Konzeption einer Alternativkultur in einem hochentwickelten kapitalisti-
schen Land ist aktuell geblieben. Eine derartige Kultur zeichnet sich durch Formen direkter Demo-
kratie, durch mitmenschliche Verhaltensweisen und durch ein kommunikatives Verhältnis zur Na-
tur aus. Da sich indessen Praktiken alternativer Lebensweise ohne äußere Repression nicht durch-
setzen lassen, ist die Entwicklung einer Widerspruchskultur in die Konzeption miteinzubeziehen. Dazu gehören Formen des politischen Protestes, des gewaltlosen Widerstandes, des zivilen Unge-
horsams und der sozialen Verteidigung.

Ebenso ist an der Notwendigkeit festzuhalten, die Kapitalismuskritik fortzuschreiben, zumal unter der verschärften Bedingung, dass eine Krise des Kapitalismus die globale Krise in Gang setzen wür-
de. Stärker heranzuziehen sind historische Erfahrungen. Fünf Jahrhunderte europäischer Koloni-
alpolitik haben fast vergessen machen lassen, dass außereuropäische Weltsichten ein anderes, herrschaftsfreies Verhältnis von Mensch und Natur umschlossen haben. Wenn 1992 das Kolum-
bus-Jubiläum zelebriert wird, bietet sich die Gelegenheit, die Ideologiekritik auch auf die vorherr-
schende Geschichtsschreibung zu lenken. Der Geist des heroisierenden Historismus hat eben die wirklichen geschichtlichen Zusammenhänge zu verschleiern gestattet und dazu beigetragen, die Überlegenheit des Okzidents über den Orient und des Nordens über den Süden zu legitimieren. So bleibt Ideologiekritik Teil der zu leistenden Arbeit, unsere Weltentwürfe zu überprüfen und zu prä-
zisieren.

Volker Bialas

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1 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Teil 2, München 1980, 5.

Prof. Dr. Volker Bialas lehrt an der TU München. Fakultät für Bauingenieur- und Vermessungswesen.


Forum Wissenschaft 3/1991, Marburg, 34 f.

Überraschung

Jahr: 1991
Bereich: Alternative Medien