Materialien 1985
Rückblick auf ein Jahr der Flaute
… In der Galerie der Künstler, dem Domizil des Berufsverbandes Bildender Künstler in München, durfte der Galerist Rüdiger Schöttle eine Inszenierung unter dem Titel „Ludwig XIV. Tanzt“ bieten. Obwohl er sich für die Gestaltung der großartigen Raumfolge auch der Mithilfe anderer bediente, muss man ihm doch wie einem Meister huldigen, einem Intendanten jenes Jesuitentheaters, das zum Beispiel die Dresdner Hofkunst des Spätbarock beherrschte.
„August der Starke tanzt“ wäre eigentlich richtiger gewesen, aber dessen Heldenleben fehlt ein mo-
derner Zug, nämlich die Bereitschaft zur Selbstvernichtung durch heroische Blindheit für alle evi-
denten Wahrheiten.
Die Furie des Verschwindens inszeniert
Wie Rüdiger Schöttle durch Lichtsimulation in Hinterglasfotografie (von Jeff Wall) oder in Stim-
mungsmalerei, wie er mit Draperien der Entgrenzung und in oasenhafter Vereinzelung zentrale Sichtweisen des Barock von heute aus wirksam werden lässt – das wird ein bleibendes, weil hof-
fentlich nachwirkendes Ereignis des Jahres 1985 werden. Ist es nun bald so weit? Sind wir endlich in der Lage, den Barock zu rezipieren, die für die Geschichte der Moderne bedeutsamste histori-
sche Epoche, die zugleich monströseste und geschichtsmächtigste, eine Zeit, in der nicht nur Pest und Syphilis, sondern auch der Krieg die Bevölkerung Deutschlands um die Hälfte dezimierte – in der Tod die Traumata des deutschen Nationalcharakters schuf und damit den Deutschen selbst? Schöttles Inszenierung der Furie des Verschwindens ließ erahnen, was wir Unerhörtes an uns selbst zu entdecken vermöchten, wenn wir diese unbekannte Wüste unserer Geschichte endlich zu durchqueren wagten.
Die Höhepunkte des Kunstjahres waren für mich zwei Ausstellungen von Gerhard Merz, die er einerseits vom Konzept her entwickelte und die er andererseits inszenierte und auch mit eigenen Werken beschickte. Die erste veranstaltete die Galerie Tanit in München als „Eine misslungene Ausstellung“. Das dreistöckige, relativ kleine Galeriehaus hatte Merz von einer der entscheidenden Leistungen moderner Ausstellungskonzeptionen befreit: von der weißen Wand. Die Haupträume wurden, zum Teil inklusive der Fußböden, jeweils pastellgrün, pastellocker und pompejanischrot gestrichen. In diese Farbräume plazierte Merz mit extremer Sparsamkeit Dialoge zwischen Werken von Cocteau, Domela, Le Brun, de Chirico, Merz, Buffet, Garouste, Derain, Mayodon. Gerhard Merz ist einer der wenigen intellektuell leistungsfähigen Gegenwartskünstler; zudem ist er immens in der Kunst- und Kulturgeschichte beschlagen und hat aufgrund seiner Biografie eine entspre-
chende Charakterstärke, sich gegen noch so verführerische Gruppenbildungen immun zu halten.
Die ausgewählten Werke schienen für extreme Positionen zu stehen, für etwas Einmaliges, ja, für etwas Wirkungsloses. In der Tat hat ja weder der hier gezeigte Buffet, noch der de Chirico, haben weder Cocteau noch Domela eine bemerkenswerte Konsequenz für die Werke anderer Künstler ge-
habt. Im Gegenteil, sie wurden zumeist als manieristische Geschmacklosigkeiten für Snobs abqua-
lifiziert. Cocteaus Gesichtsstele in Murano-Glas, de Chiricos blond gewellte Rosse am Strand, Buf-
fets Fledermaus-Asket und Derains akademische Fruchtschale wie auch Domelas Aluminium-Li-
neamente mit eleganten Edelholzauffüllungen schienen dem Weltsprachenpathos der informellen, der tachistischen und der abstrakt expressionistischen Kunst der fünfziger Jahre gegenüber be-
stenfalls noch so etwas wie Dokumente der Senilität und der geschmäcklerischen Verpackung un-
säglicher Banalität zu sein.
Merz diskutiert nun die sehr brauchbare Hypothese, dass vornehmlich in den zu Boutiquen-Kitsch herabgesunkenen Werken der „Wille zur hohen Kunst“ überlebt hat, also die Forderung an den ge-
bildeten Künstler, ein Herr in hündischer Welt zu sein und das Geschmacksurteil dort zur letzten Instanz zu erheben, wo ansonsten nach Wahrheitskriterien oder nach den diversen Opportunitäten geurteilt wird. Das ist sicher problematisch, weil allzu leicht der Dandy als Heros solchen Künstler-
verständnisses wiederbelebt zu werden droht.
In der Ausstellung wurde jedenfalls klar, dass es um mehr geht. Dem Geschmacksurteil wird etwa das abverlangt, was der aufgeklärte Zeitgenosse als unfreiwillige Kulturleistung der Zensur zu-
schreibt: Wer künstlerische Äußerungen der Zensur unterwerfen möchte, dokumentiert damit ja einen extrem hohen Glauben an die Wirkungskraft der Künstler.
Die zweite Ausstellung von Gerhard Merz,ebenfalls in München, aber in einem ehemaligen Laden-
lokal eingerichtet, führte den Titel „Schwere Reiter“, eine Zurschaustellung vergleichbarer Gewich-
te. In den Räumen, unter schweren Kristallüstern, zwischen orientalischen Möbeln, bunten Deko-
rationsgläsern und einem weißen Architekturmodell, hängen vier kostbare Bilder und zwei Wand-
stücke. Über den Rundbögen stehen in rot gefassten Buchstaben die Namen der ausstellenden Künstler und der ausgestellten Gegenstände: Manolo Nuñez: „Les arènes de Picasso“. Gino Cene-
dese: „Richiama anatre, Flaconi“. Carlo Maria Mariani: „Pictor Philosophus, Poseidon“. Carlo Bu-
gatti: „Credenza, Trono, Sedie“. Gerhard Merz: „Gloria, Habemus Papam“. Grotto: „Stuhl“. Sol LeWitt: „Symbols“. Salviati: „Manu surrealistica“.
Ein Sieg über zeitgemäße Vereinzelung
Worüber triumphiert solche Kunst? Denn dass sie triumphierend von Merz gezeigt wird, kann dem Ausstellungsbesucher schwerlich entgehen. Es ist der Triumph über die zeitgemäße Vereinzelung des Werkes als Museumsgut in Kunstkliniken. Merz will nicht zur Salon- und Palasthängung zu-
rückkehren, durch die auch Kunstwerke bloß Bestandteile einer hochkomplexen, einer vollgestopf-
ten Lebensbühne waren. Dennoch und über das Paradox hinaus: Kunstwerke werden erst wieder überragende Bedeutung jenseits der Museumspräsentation gewinnen, wenn sie weniger Anspruch auf herausragende Positionierung als auf Integration in die Lebenswelt erheben. Gerhard Merz gab Beispiele für solche Integration der Werke in übergeordnete Erscheinungsbilder …
Bazon Brock
art. Das Kunstmagazin 1 vom Januar 1986, Hamburg, 72 ff.