Flusslandschaft 2020

Religion

Das bayrische Management in der Pandemie ist miserabel. Es gibt zu wenig Masken, kaum Schutz-
kleidung. Hektisch wurschteln die politisch Verantwortlichen. Da planen einige Kleriker im April eine große Gebetsaktion. MP Söder wird zum Schirmherrn. Er meint: „Gemeinsam zu beten, ver-
bindet über die Konfessionen, über die Religionen hinweg. Das Unterhaken im Glauben, das Be-
kenntnis zu den Werten des Glaubens, zu der Menschlichkeit, aber auch zur Göttlichkeit, ist das, was uns alle verbindet … Ich bete jeden Tag. Ich bete eigentlich immer.“1

Kirchenkritische Geister haben beim bayrischen Verwaltungsgerichtshof einen Teilerfolg erzielt. Assunta Tammelleo, stellvertretende Vorsitzende des Münchner Bundes für Geistesfreiheit und Initiatorin der Klage, sieht sich im Juni bestätigt: „Alle Klägerinnen und Kläger müssen in ihrem Leben eine Behörde aufsuchen oder werden gar dort hingebracht – z.B. von der Polizei oder einem Rettungsdienst. Von der Geburtsanzeige bis zur Sterbemitteilung, von der Kfz-Zulassung bis zu einem Bauantrag, von einer Gewerbeanmeldung bis zur Eheschließung – es gibt kaum einen Be-
reich, in dem die Klägerinnen und Kläger nicht damit konfrontiert sind, dass ihnen das Kreuz als quasi-staatliches Symbol demonstrativ vorgehalten wird … Das Kreuz als das zentrale Symbol der christlichen Religionsgemeinschaften den Kennzeichen und Symbolen anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wird vorgezogen und in demonstrativer Weise schon im Ein-
gangsbereich präsentiert. Als religionskritische Weltanschauungsgemeinschaft sehen wir uns hier nicht nur einer Ungleichbehandlung ausgesetzt, sondern auch einer Herabsetzung der eigenen Weltanschauung durch die Bevorzugung der christlichen Religion, obwohl wir als Körperschaft des öffentlichen Rechts den Religionsgemeinschaften juristisch gleichgestellt sind“, sagt Tammelleo. Das Grundgesetz hat aber durch Artikel 140 „dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne An-
sehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität“ auferlegt, wie das Bundesverfassungsge-
richt schon 1965 feststellte. Der Kreuzerlass und die Anbringung der Kreuze im Eingangsbereich der bayerischen Behörden verletzt dieses Neutralitätsgebot aus Sicht des Bundes für Geistesfrei-
heit. „Denn das Kreuz ist nicht ‚Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns‘, wie es im Kreuzerlass steht, sondern es ist ein ‚religiöses Symbol des Christentums‘, wie das VG richtig feststellt.“2

Wer die Kundgebungen der so genannten Querdenker besucht, stellt überrascht fest, dass eine nicht unerhebliche Zahl von Bannern und Tafeln mit Bibelzitaten versehen ist. Manche der Anwe-
senden predigen. Zwei sich diametral entgegengesetzte Haltungen werden hier deutlich. Ein junger Mann ruft am 12. September, die Seuche sei der Vorbote des Jüngsten Tages, deute auf die kom-
mende Apokalypse hin, sei nichts anderes als die gerechte Strafe des HERRN HERRN für die al-
lenthalben stattfindenden Verbrechen und die herrschende Hurerei des gottlosen Gesindels, das den Erdenrund bevölkere. Eine junge Frau dagegen meint, wer sich in die Obhut Jesu’ begebe, seiner allumfassenden Liebe sich ergebe, dem könne das Virus nichts anhaben, der sei gerettet, „Amen“.

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Die Theatinerkirche am Nachmittag des 3. Oktober

8. Dezember, Dienstag Abend, Sperrengeschoss am Münchner Hauptbahnhof. Zwei junge Bundes-
polizisten gehen Streife. Da sehen sie eine 74jährige Dame, die ohne Munaske (Mund-Nasen-Schutz) herumläuft. Auf das fehlende Accessoire angesprochen, meint die österreichische Wahl-
münchnerin, der Allmächtige selbst habe sie vom Tragen solcher Masken befreit und belegt dies durch diesen Zettel:
„PSALM 91 SCHUTZ DES ALLMÄCHTIGEN GOTTES – Übersetzung: Hoffnung für Alle (HFA)
1. Wer unter dem Schutz des Höchsten wohnt,     der kann bei ihm, dem Allmächtigen, Ruhe finden.
2. Auch ich sage zum Herrn: »Du schenkst mir Zuflucht wie eine sichere Burg! Mein Gott, dir ge-
hört mein ganzes Vertrauen!«
3. Er bewahrt dich vor versteckten Gefahren und hält jede tödliche Krankheit von dir fern.
4. Wie ein Vogel seine Flügel über die Jungen ausbreitet, so wird er auch dich stets behüten und dir nahe sein. Seine Treue umgibt dich wie ein starker Schild.
5. Du brauchst keine Angst zu haben vor den Gefahren der Nacht oder den heimtückischen Angrif-
fen bei Tag.
6. Selbst wenn die Pest im Dunkeln zuschlägt und am hellen Tag das Fieber wütet, musst du dich doch nicht fürchten.
7. Wenn tausend neben dir tot umfallen, ja, wenn zehntausend um dich herum sterben – dich selbst trifft es nicht!
8. Mit eigenen Augen wirst du sehen, wie Gott es denen heimzahlt, die ihn missachten.
9. Du aber darfst sagen: »Beim Herrn bin ich geborgen!« Ja, bei Gott, dem Höchsten, hast du Hei-
mat gefunden.
10. Darum wird dir nichts Böses zustoßen, kein Unglück wird dein Haus erreichen.
11. Denn Gott wird dir seine Engel schicken, um dich zu beschützen, wohin du auch gehst.
12. Sie werden dich auf Händen tragen, und du wirst dich nicht einmal an einem Stein stoßen!
13. Löwen werden dir nichts anhaben, auf Schlangen trittst du ohne Gefahr.
14. Gott sagt: »Er liebt mich von ganzem Herzen, darum will ich ihn retten. Ich werde ihn schüt-
zen, weil er mich kennt und ehrt.
15. Wenn er zu mir ruft, erhöre ich ihn. Wenn er keinen Ausweg mehr weiß, bin ich bei ihm. Ich will ihn befreien und zu Ehren bringen.
16. Ich lasse ihn meine Rettung erfahren und gebe ihm ein langes und erfülltes Leben!«“4
In der sich anschließenden Diskussion stehen sich erneut zwei Haltungen diametral gegenüber. Die beiden Beamten WISSEN, dass sie verpflichtet sind, der Dame eine Ordnungswidrigkeiten-
anzeige nach der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung angedeihen zu lassen. Bei ihnen kommt Wissen vor Glauben. Auf die Dame wie einige andere Zeitgenossen trifft die Erkennt-
nis zu: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Eine Beobachterin der Szene verlässt in Gedanken ver-
sunken den Schauplatz. Sie denkt, Wissen ist oft deprimierend, die Nichtwissenden sind oft die Glücklicheren.

In München treten in diesem Jahr aus den christlichen Kirchen gut 13.500 Menschen aus, bundes-
weit waren es 440.000 Menschen.


1 Zit. in: Arbeiterstimme 211 vom Frühjahr 2021, 14.

2 Siehe https://www.bfg-muenchen.de/portal/aktuelles-bfg-muenchen.

3 Foto: Jessica di Rovereto

4 https://www.biblegateway.com/passage/?search=Psalm+91&version=HOF

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Religion