Materialien 1985

Warum nicht Nulltarif?

MVV-Fahrpreiserhöhung am 1. Januar 1986

4. September, S5 Richtung Tutzing, 14.30 Uhr, Haltestelle Laim: Ein Fahrschein-Kontrolleur, der die ablehnende Haltung der Fahrgäste spürt, sagt mit etwas gequältem Lächeln: „Mei, a jeder macht hoit sei Arbat!“ Darauf erwidert eine ältere Dame spitz: „Nennan Sie des Arbat?“ Man sieht förmlich, wie es im Kopf des Kontrolleurs zu denken beginnt, bis er dann nach einigen Sekunden herausplatzt: „Ja mei, der oane hats halt in de Händ und der ander im Kopf.“ Betretenes Schwei-
gen im Abteil.

1984 wurden bei Kontrollen 210.000 Schwarzfahrer ertappt. Nun ist der Einnahmeausfall des MVV sicher ein beträchtlicher, und auch der von Arbeitslosen verstopfte Arbeitsmarkt wird durch den Einsatz von Kontrolleuren ein wenig entlastet; dennoch ist zu fragen, ob der Aufwand an Ver-
waltung und Gehältern diese Einrichtung, eine für viele entwürdigende Einrichtung, rechtfertigt. Was wird bei uns nicht alles kontrolliert!

Rote Zahlen

1984 zählte der MVV bei 475 Millionen Fahrgästen eine halbe Million mehr als 1983. Der Zuwachs ist geringer als 1982. Eingenommen wurden 439,3 Mill. DM, 13 Mill. mehr als 1983. Die Ausgaben dagegen sind von 807,4 Mill. DM auf 836,2 Mill. DM gestiegen.

Am 19. Juli 1985 argumentierte die Münchner Verkehrs- und Tarifverbund GmbH in ihrer Antwort auf eine Anfrage des Stadtrats Thomas Ködelpeter von der Fraktion Die Grünen/ALM, „dass die Kostenunterdeckung, die von 1980 bis 1984 von 270 Mill. DM auf voraussichtlich 349 Mill. DM an-
gewachsen ist, 1986 und 1987 in ihrem weiteren Wachstum abgeschwächt wird.“ Maßstab für eine Fahrpreiserhöhung sollten aber weder das Defizit, die gestiegenen Kosten der Betriebsführung noch der Vergleich mit den Kosten des mit dem öffentlichen Personenverkehr im Wettbewerb ste-
henden Individualverkehrs sein. Konsequent wären ja dann auch neue Preiserhöhungen, wenn z.B. Benzin oder Kraftfahrzeuge wesentlich teurer würden.

Sicher wird das zu erwartende Defizit und damit die Ausgleichszahlungen des Bundes durch die Fahrpreiserhöhung etwas reduziert. Aber kann nicht auch durch andere Maßnahmen das Defizit reduziert werden, z. B. durch den Verzicht auf den geplanten und von vielen als sinnlos angesehen-
en Austausch der U-Bahnzüge?

Mit der Rolltreppe nach unten

Natürlich muss, wer zur Arbeit fährt, möglichst schnell am Ziel sein. Im Gegensatz zu U- und S-Bahn gab es bei den Straßenbahnen einen Rückgang der Fahrgäste von 95,4 Mill. 1983 auf 89,4 Mill. 1984.

Bekannt ist, dass viele, vor allem ältere Mitbürger ihre Wohnung nicht mehr so oft verlassen, seit die gewohnte Straßenbahnhaltestelle fehlt und dafür ein U-Bahneingang lockt. Zwar wird das Fahrtziel schneller erreicht, dafür aber sind die Wege vom und zum U-Bahnhof beschwerlicher und unübersichtlicher geworden. U-Bahn, das ist für die Jungen, die’s eilig haben.

Detroit und Wanne-Eickel

Nicht das Konzept „schienenfreie Innenstadt“sollte angewendet werden, sondern: „autofreie In-
nenstadt mit freier Fahrt für die Schiene"“. Vorreiter sind hier Basel, Zürich, Witten und Wanne-Eickel. In Herne wurde nach Schließung der streckenparallel geführten U-Bahn-Baugrube eine optimale und elegante Straßenbahnführung geschaffen. Eine Fahrt auf dem Niveau der Stadtland-
schaft bedeutet bewusstes Sehen, Raum und Zeit bleiben sinnlich und der Fortbewegung adäquat. Deshalb fahren in San Franzisco Cable Cars, in Rio de Janeiro die Bonde und Bahnen in Seattle und Detroit. Die oberirdische Bahn dient der Kommunikation nach innen und außen und verhin-
dert so die Entvölkerung der Innenstadtbereiche mit.

Fahrpreiserhöhung und Nulltarif

Wie die Süddeutsche Zeitung am 29. Mai 1985 schrieb, können sich die Münchner auf etwas „Er-
freuliches“ gefasst machen. Demnächst werden 1.379 Fahrkartenautomaten gegen eine neue „Ge-
neration“ ausgetauscht. Diese können jetzt – prima! – Hartgeld und 10-und 20-Mark-Scheine wechseln. Oben wurde vom Defizit des MVV gesprochen, und die Frage liegt nahe:Was kostet die Entwicklung und Umstellung dieser neuen Automaten? Zu diesen Ausgaben dazu zuzählen wären alle Kosten, die sich als Folge des Tarifsystems erweisen.

1980 z.B. kostete der Erwerb und das Aufstellen von Fahrscheinautomaten 3,81 Mill. DM, die laufende Wartung der Geräte rund 2 Mill. DM, der Druck von Fahrscheinen und Netzkarten rund 600.000 DM. Die Beschaffungskosten für 635 Fahrkartenautomaten betrugen je ca. 10.500 DM, S80 Entwerter je 2.500 DM. Dazu kommen Personalkosten, die laufende Werbung für das Fahr-
preissystem, Gehälter der Kontroll-Instanzen, Mehraufwand an Arbeitszeit für Straßenbahn- und Omnibus-Personal; sicher fehlt in dieser Aufstellung noch dies und das.

Alles zusammen müsste gegen die Einnahmen aus dem Verkauf von Fahrscheinen aufgerechnet werden. Ob dann überhaupt noch ein Plus bleibt und wenn ja, wie viel? Wäre es hier nicht besser, langfristig auf den Null-Tarif umzustellen und somit auf die erhebliche Summe unproduktiver Folgekosten zu verzichten? Schließlich würde der Null-Tarif den Umstieg vom Auto auf die Bahn attraktiver machen und die von der Allgemeinheit zu tragenden Folgekosten des Individualver-
kehrs reduzieren helfen.

Im vergangenen Jahr sind auf den Straßen der Bundesrepublik 10.196 Menschen getötet worden, davon 3.729 im Innerortsverkehr. Verletzt wurden 465.950, davon 303.172 in Ortschaften. Der Rückgang in der Nutzung der öffentlichen Nahverkehrsmittel (München verzeichnet auch nur ein leichtes Plus) liegt in den letzten 3 Jahren bei über 10%, der Anteil der eigenen Autos bei Fahrten von und zur Arbeit hat die Rekordmarke von 80% erreicht!

Der Autoverkehr bringt Tote, Verletzte, Lärm, Abgase, Zerstörung von Architektur und Natur. Alle diese Schäden müssen von der Allgemeinheit beglichen werden. Verglichen mit diesen Folgekosten schneidet der MVV zehnmal besser ab; das Defizit des MVV zählt hier ungleich weniger. Es erspart uns mehr, als wir sonst ausgeben müssten.

Auf jeden Fall verhindern Fahrpreiserhöhungen eine energiebewusste und umweltschonende Ver-
kehrspolitik.

Fazit:
– Der MVV nützt seine Monopolstellung aus.
– Die Fahrpreiserhöhung ist energie- und umweltpolitisch töricht.
– Wer vom Auto auf den MVV umsteigen will, wird verprellt.
– Wer seit Jahren dem MVV die Treue hält, wird dafür bestraft.

Renate Burmeister/Günther Gerstenberg


WIR. Informationen für Münchner Gewerkschafter 4/1985, 10 f.

Überraschung

Jahr: 1985
Bereich: Umwelt