Materialien 1966

Natur in Not

Die deutsche Landschaft ist drauf und dran, zur deutschen Stadtschaft zu werden. Nie zuvor ist die Verstädterung mit so beklemmender Geschwindigkeit vor sich gegangen wie heute, noch nie hat das Schlagwort „Natur in Not“ eine so bittere Berechtigung gehabt wie jetzt.

Vertreter des deutschen Naturschutzringes haben unlängst die Öffentlichkeit hierauf aufmerksam zu machen versucht, als sie Bundesernährungsminister Höcherl beschworen, die Subventionen für Meliorationen und Entwässerungsarbeiten zu kürzen, Mittel also, die letzten Endes auch den Aus-
verkauf der deutschen Landschaft beschleunigen helfen. Anlass dazu waren die vielerorts zu weit getriebenen Moorkultivierungen und Entwässerungsmaßnahmen, mit denen nicht nur einst schö-
ne und romantische Landschaftsgebiete verunstaltet werden, sondern auch der Grundwasserspie-
gel in einem für Trockenzeiten gefährlichen Ausmaß gesenkt wird. Allein in den Jahren 1963 und 1964 wurden im Zuge der sogenannten „Flurbereinigung“ (ein unerträgliches Wort) rund 4.000 Wasserläufe aus wirtschaftlichen Erwägungen in sterile Mauerbetten eingezwängt und damit ihrer biologischen Aufgaben beraubt.

Die Entwässerungsmaßnahmen sind jedoch nur ein Teil eines umfassenderen Problems. Unsere Städte und Vorstädte dehnen und recken sich wie erwachende Riesen, ungezügelt überwuchern sie die uns noch verbliebenen Reste der Landschaft. Gas-, Öl- und elektrische Überlandleitungen schlängeln sich in die letzten Winkel des Landes, See- und Flussufer werden eingefasst, Luftver-
unreinigung und Wasserverpestung zwingen die Natur auf der ganzen Linie zum Rückzug.

Angesichts dieser Entwicklung sind die Naturschützer heute in die Rolle von Kampfgemeinschaf-
ten gezwungen, die ihren Zeitgenossen klar zu machen haben, dass Naturschutz nicht um der Na-
tur, sondern um des Menschen willen getrieben wird. Das 1öbliche Anliegen allein tut es freilich nicht. Es müsste mit sehr viel mehr Nachdruck vorgetragen werden, als es derzeit geschieht. Man halte sich nur einmal vor Augen, dass gegenwärtig Tag für Tag rund 20 Millionen Kubikmeter Ab-
wässer aus den Schlünden der Industriebetriebe in unsere Bäche, Flüsse und Seen fließen: ein Viertel davon völlig ungereinigt, nur ein Viertel biologisch geklärt. Die Verschmutzung dieser Ge-
wässer hat dementsprechend einen grotesken Grad erreicht. Dazu sinken auf das Bundesgebiet jährlich etwa vier Millionen Tonnen Ruß und fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxyd herab. In einigen Gegenden, voran das Ruhrgebiet, reichen heute weder Wind noch Regen aus, um die Luft wenigstens zeitweise vom gasförmigen Müll zu reinigen, der aus den Auspuffrohren, den Schloten und Kaminen in sie entlassen wird.

Der vielbesungene deutsche Wald ist zu einem Schatten seiner selbst geworden. In der Umgebung der großen Städte muss et es sich gefallen lassen, dass ihn die motorisierten Ausflügler nicht nur mit lärmendem Getöse erfüllen, sondern auch zum Abladeplatz ihres Unrates degradieren, Abfälle, die zunehmend aus nicht oder nur schwer zersetzbarem Kunststoff bestehen.

Was besonders bedrückend ist: Die verzweifelten Appelle, mit denen weitblickende Leute heutzu-
tage für den Naturschutzgedanken werben, verhallen so gut wie ungehört. Viele auf diesem Feld tätige Kräfte erliegen obendrein dem Druck rücksichtsloser Unternehmer, die Fabrikanlagen, Wochenendhäuser, Jagdhütten, ja Privatflugplätze an landschaftlich schutzwürdigen Punkten zu errichten begehren. Sie erliegen dem Druck von Gemeinden, die sich von leichthin erteilter, Bau-
genehmigungen wirtschaftliche Vorteile versprechen.

Ein übriges tut dann noch die weitverbreitete Gleichgültigkeit jener Erkenntnis gegenüber, dass der Mensch vorn Brot allein nicht lebe. Mit den Leuchtreklamen, den Beton-Alpträumen unserer großen Städte und unseren Autos allein können wir auf die Dauer nicht selig werden, es sei denn, wir wünschten uns ein weiteres Ansteigen der Neurosen und Zivilisationskrankheiten. Dem biss-
chen Natur, das uns in unserem Vaterlande noch geblieben ist, gebührt daher der denkbar rigoro-
seste Schutz – um unserer selbst willen.

Theo Löbsack


Westermanns Monatshefte 12 vom Dezember 1966, Braunschweig, 82 f.

Überraschung

Jahr: 1966
Bereich: Umwelt