Materialien 1974

Kein Kunsterzieherparadies!

„Der Weg von Theorie zur Praxis“ von Ludwig Zerull, Kunst + Unterricht Heft 23, S. 50 ff.

Die Fachgruppe Kunst und Werkerziehung der GEW München wendet sich als Betroffene gegen die beschönigende Tendenz des Berichtes von Ludwig Zerull über die bayerische Ausbildungssitu-
ation: Verschiedene Falschinformationen sind geeignet, den Eindruck zu erwecken, als herrschten in Bayern beinahe ideale Ausbildungsverhältnisse, die einen guten Kontakt und intensiven Erfah-
rungsaustausch zwischen den Seminarteilnehmern ermöglichten. Der gröbste Fehler in dem Be-
richt ist die Behauptung, es gebe in Bayern nur eine Seminarschule für die Fachrichtung Kunster-
ziehung. Richtig ist, dass sechs Seminarschulen in Bayern verstreut sind, davon vier in München, eine in Fürth und eine in Bayreuth, die von insgesamt zwölf (nicht zwei!) Seminarlehrern betreut werden. Herr Zerull hat sich nicht die Mühe gemacht, sorgfältig bei allen Betroffenen (Seminarleh-
rern wie auch Referendaren) zu recherchieren. (Entgegen dem sonst durchaus seriösen Stil von Kunst + Unterricht, und wie eine Rücksprache bei der zitierten Seminarlehrerin Frau Eckstein er-
gab, ist der Bericht das Ergebnis eines Gesprächs am Mittagstisch, so zwischen Braten und Dessert, auf einer Kunsterziehertagung.)

Im Gegensatz zu der harmonisierenden Darstellung des Berichtes erfahren die Referendare diese von Herrn Zerull so gelobte „harte, aber auch klare Konfrontation mit der Schulalltäglichkeit“ als eine repressive Schocktherapie mit verheerenden Folgen: Entgegen der Ausbildungsordnung, die eine allmähliche Einübung der Lehrerrolle und den ersten selbständigen Unterricht der Referenda-
re für den 3. Ausbildungsmonat vorsieht, übernehmen die Referendare nach dem Motto einer „Schwimmpädagogik“ (man lernt am besten Schwimmen, wenn man in‘s Wasser gestoßen wird) vielfach schon im ersten Monat, selbstverantwortlich Unterrichtsklassen, bzw. -gruppen, ohne je-doch vorher genügend durch didaktisch aufbereitete Hörstunden und Unterrichtssequenzen vorbe-reitet worden zu sein. Besonders erschwerend wirkt sich für die Referendare hierbei aus, dass die Akademieausbildung nicht auf den Beruf vorbereitet. Anstatt gemeinsame Lernprozesse der Semi-nargruppe als Grundlage der Ausbildung zu intensivieren, wird jeder Referendar von Beginn des selbständigen Unterrichtes an auf seine individuelle Struktur und Fähigkeit zurückverwiesen, wo-mit der Sinn jeglicher Ausbildung negiert wird. Das unter diesen Bedingungen notwendig entste-hende Konkurrenzverhalten der Referendare untereinander wird von den Seminarleitern oftmals zum Prinzip der Ausbildung gemacht. Der Referendar ist in diesem Ausbildungsabschnitt bis zum zweiten Staatsexamen einer dauernden unausgesprochenen Examinierung ausgesetzt. In dieser Zeit macht sich der Seminarleiter sein „Bild“ vom jeweiligen Referendar, das sich in den Gesichts-noten „Pädagogische Bewährung“ und „Gesamthaltung“ dann handfest im Examen ausdrückt (Bayer. Ausbildungsordnung für StRef).

Das bayeriscle Kunsterziehungsparadies zeichnet sich auch dadurch aus, dass immer mehr offene Kunsterzieherstellen von Referendaren besetzt werden, die als eine Art Feuerwehr die schlimmsten Auswirkungen des Lehrermangels verhindern sollen und Geld sparen helfen. Ein Kennzeichen für die bildungsfeindliche Politik des bayerischen Kultusministeriums ist die groteske Tatsache, dass trotz Lehrermangel in diesem Jahr erstmals drei Kunsterzieher nach dem zweiten Examen nicht in den Staatsdienst übernommen wurden. Hinzu kommt noch die Tendenz, junge Studienräte gleich zu Anfang in ihrem pädagogischen Eifer zu dämpfen und sie gefügig zur Anpassung an die schlech-
te Unterrichtssituation zu machen, indem man sie in ihrer ersten dienstlichen Beurteilung mit der Note 5 qualifiziert (dadurch werden Verbeamtung und Beförderung hinausgeschoben).

Die Fachgruppe Kunst- und Werkerziehung der GEW Oberbayern (inzw. 150 Mitglieder) verfolgt diese Entwicklung mit Aufmerksamkeit und gedenkt zu Beginn des neuen Schuljahres eine Kam-
pagne gegen diese Maßnahmen einzuleiten.

Klaus Rost, Michel Müller, GEW Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Fachgruppe Kunst- und Werkerziehung, München


Kunst + Unterricht 25 vom Juni 1974, Velber bei Hannover, 6.

Überraschung

Jahr: 1974
Bereich: SchülerInnen