Materialien 1977
Verwischte Zeitgeschichte
„Die Dreißiger Jahre – Schauplatz Deutschland“. Ausstellung im Haus der Kunst, München (dort noch zu sehen bis zum 17. April 1977; anschließend im Museum Folkwang, Essen vom 30. April bis zum 3. Juli und im Kunsthaus Zürich vom 15. Juli bis zum 18. September 1977).
„Wer hatte in der Emigration Glück, konnte wirkungsvoll weitermachen, wer nicht? Wer scheiter-
te, gab auf, zwang sich zur letzten Tat, nicht in dringendster Gefahr, in der so mancher in den Selbstmord floh, sondern in Verzweiflung? Wer konnte zu Hause bei Wahrung seiner Ehre seine Arbeit heimlich oder halb heimlich oder in aller Öffentlichkeit fortführen? Wer stand unter Verbot, überlebte schweigend, ging in Dunkelheit zugrunde? Fragen, die meines Wissens noch nie syste-
matisch untersucht wurden …“ – Fragen, die Golo Mann im Katalogvorwort zur Ausstellung stellt, die aber von dieser Ausstellung nicht im geringsten beantwortet werden. Es ist in den letzten Wo-
chen schon viel geschrieben worden über die Instinktlosigkeit, Oberflächlichkeit oder Gleichgültig-
keit der vier Museumsleiter Günter Aust, Erika Billeter, Dieter Honisch und Paul Vost, die den willkürlichen Zeitraum von 1930 – 1940 zum Ausstellungsanlass nahmen und alles, die Bilder der Verfolgten, Verfemten, Verschollenen und die der Protegierten des Nazi-Reiches an den \Wänden des „Hauses der Kunst“ herum gefällig aufhängten. Die Methode ist die jener Kunstwissenschaft-
ler, deren ehrgeiziges Interesse die exakte Datierung von Kunstwerken ist und die das Datierte dann unbefragt und unsortiert der Öffentlichkeit übergeben, beseelt allein vom Drang nach lexi-
kalischer Vollständigkeit. Einer der vier Verantwortlichen, Paul Vogt, verteidigte in einem Inter-
view die Standpunktlosigkeit der Ausstellung:
„Wir wollten unbedingt vermeiden, hier den Weltenrichter zu spielen und etwa Kategorien aufzu-
stellen – hier die Guten, die Verfemten, die Dulder und Heiligen, dort die ‚Gearteten‘, die Mitma-
cher und Bösewichter, die NS-Geförderten und Propaganda-Helfer. Selbstverständlich sind diese extremen Fälle auch darunter, die eindeutigen, wo die Zuordnung leicht ist. Aber das war nicht das Thema. \Wo etwa Paul Klee steht, wo Kandinsky oder Max Beckmann und wo Sepp Hilz oder Adolf Ziegler einzureihen sind, das weiß ja wohl jeder …“
Dem ist energisch zu widersprechen. Gerade Paul Vogt hätte in dem von ihm geleiteten Essener Folkwang-Museum vorzüglicher Kunst des XX. Jahrhunderts schon festgestellt haben müssen, dass z.B. auch seine Besucher aus dem Ruhrgebiet, aus dem Essener Südosten, aus Altendorf, Dellwig, Altenessen und Vogelheim, mit ihrem hohen Bevölkerungsanteil an Arbeitern nicht wis-
sen können, „wo Paul Klee steht … und Adolf Ziegler einzureihen“ ist. Der lapidare Satz „das weiß ja wohl jeder“ ist achtlos oder zynisch und ersetzt nicht ein didaktisches Konzept, das bei diesem unaufgearbeiteten Zeitraum deutscher Kunstgeschichte nicht hätte fehlen dürfen.
In dem Münchner Haus der Kunst, das wie nur wenige Ausstellungsgebäude in der Bundesrepublik stets lebhaft besucht ist und merkwürdigerweise keine Schwellenangst verbreitet, gehen auch bei dieser Ausstellung die Besucher umher und konsumieren ein Bilderbuch der deutschen Klassi-
schen Moderne, aufgehängt nach keinem anderen erkennbaren Kriterium als dem, dass die größte Wand dem größten Bild gehört. 310 Exponate sind zu besichtigen, aus vielen deutschen Museen, aber auch aus Amsterdam, Basel, London, Modena, Mailand und New York hierher gebracht. Le-
diglich zwei Texte, in Letrazet-Buchstaben an verschiedenen Türdurchgängen aufgeklebt, sollen den nicht versierten Besuchern die Einordnung ermöglichen. Der eine heißt: „Hauptmeister des Expressionismus und des Realismus. Seit 1933 von den Machthabern des Dritten Reiches diffa-
miert. Ihre Werke wurden 1937 aus den deutschen Museen entfernt, viele von ihnen erhielten Be-
rufsverbot.“ Die anderen werden mit einem zweiten Satz bedacht: „Offizielle Kunst des Dritten Reiches. Der Versuch, die Ideologie des Nationalsozialismus im Medium des Bildes, der Plastik und der angewandten Kunst zu verherrlichen.“ So einfach ist das alles. Kein Hinweis etwa, wie ihn doch auch Golo Mann im Vorwort erwartet hätte, spricht von Otto Freundlichs Deportation und seinem Tod im KZ Lublin-Maidanek oder von Max Beckmanns Flucht über Paris und Versteck in Amsterdam während der deutschen Besetzung. Allein das Aufhängen seines 1933 die Emigration und die Gewaltherrschaft vorahnenden Triptychons „Abfahrt“, das man aus New York geholt hat, reicht da nicht. Keine Liste über die Namen der „entarteten Künstler“ und das Ausmaß der bei ihnen beschlagnahmten und 1937 ebenfalls zuerst in München ausgestellten Werke trübt das Bild. George Grosz, dessen kritische Warnungen vor dem Dritten Reich und dessen künstlerische Hilf-
losigkeit in der schon 1932 gewählten Emigration zwei Seiten eines Künstlerschicksals jener Jahre waren, kommt erst gar nicht vor.
Eine Ausstellung mit vielen schönen Bildern, mit wenigen Großfotos von Architektur, die damals zwischen Berlin Siemensstadt und Chicago/Illinois („Schauplatz Deutschland“!) gebaut worden ist, ein paar Telefonapparaten und Volksempfängern, sehr viel Glas und Porzellan in Vitrinen, einem schwarz-lackierten VW-Prototyp und einigen schlechten Nazi-Bildern. Wie hätte sie aussehen können, wenn sie die politischen Reglementierungen nicht verwischt, sondern klargelegt hätte? Schwer, da ohne mehr erklärenden Text auszukommen. Ein nur kontrastierendes Arrangement der Ausstellungsstücke, wie man es sich sicher bei mancher Darstellung zeitlich paralleler Kunstent-
wicklungen vorstellen könnte, muss wohl versagen, wenn der künstlerische Zeitzusammenhang von den politischen Machtverhältnissen dominiert war wie damals. Werner Hofmann, der Ham-
burger Kunsthallendirektor, der sich auf das Sichtbarmachen von künstlerischen Zeitbezügen versteht, hat auch zum Thema „1930 – 1940“ eine bessere (Teil-)Ausstellung bereits vor vier Jah-
ren gemacht. Weil sie „Kunst in Deutschland 1898 – 1973“ hieß und sich finanziell und in der Zu-
fälligkeit des Zeitabschnitts an das 75jährige Jubiläum einer Benzinfirma anlehnte, wurde sie da-
mals kritisiert. Aber die formale Rubrizierung in einzelne Jahre, die allein schon in der räumli-
chen Gliederung ihren Ausdruck fand, zeigte, so wie Hofmann das kontrapunktisch arrangiert hatte, großen Vorteil fürs Verstehen von Zeitzusammenhängen. Jedes Jahr hatte eine Koje mit drei Wänden, auf denen nur drei Kunstwerke und weniges Dokument- oder erklärendes Textmaterial ausgebreitet werden konnte. Das machte möglich, etwa 1901 (schon) Paul Klee mit (noch) Böcklin und (auch) Klees Lehrer Franz von Stuck zu konfrontieren, ebenso 1937 etwa (noch) Paul Klee mit (schon) Werner Gilles, aber (auch) Adolf Ziegler bildlich zu kommentieren. Des Prinzips jener Hamburger Schau hätte es in München bedurft. Aber womöglich hat, wie im Haus der Kunst im-
mer der Fall, auch diesmal schon die von Führer und von Architekt Paul Ludwig Troost vorgege-
bene monströse Räumlichkeit des Gebäudes eine überzeugende Beschränkung auf Beweisstücke aus den Dreißiger Jahren verhindert.
Der Katalog – (zugegeben) besser als die Ausstellung zu gebrauchen – aber mit harmlosen Texten, hat 254 S. und ist wegen des geringen Preises (nur 12 Mark) und wegen vieler Abbildungen zu empfehlen. Beim Haus der Kunst, 8 München, Prinzregentenstr. 1 erhältlich.
Ludwig Zerull
Kunst + Unterricht 42 vom April 1977, Velber bei Hannover, 3.