Materialien 2020

Ein unfreiwilliger Forschungsaufenthalt mit teilnehmender Beobachtung

Begegnungen in einer Münchner Klinik mit einer Italienerin, einer Kroatin, einer Serbin, einem Griechen, einem Perser, einem Spanier, einem Taxi-Fahrer, einem Dutzend Männer, mit einem Handlungsreisenden und seiner Frau, einem Rechtsanwalt, einem stillen Mann, mit Kranken-
schwestern und Pflegern, Ärztinnen und Ärzten sowie mit Verwaltungsangestellten

1. Tag, Mittwoch, 1. Juli

Um 9 Uhr 30 treffe ich zur Anamnese ein, ziehe beim Empfang eine Nummer und trotte in den Wartebereich. Im Dunst aus Schweiß, Urin und ungewaschenen, muffigen Holzfäller-Hemden kauert auf Plastikstühlen ein Dutzend Männer, der jüngste vielleicht dreißig. Sie alle haben Proble-
me mit ihrer Prostata.

Ich setze mich, zwei hält es nicht mehr auf den Stühlen, sie tigern auf und ab. Fast alle Köpfe sind gesenkt, blicken sie hoch, flackern ihre Augen. Schultern hängen. Es riecht nach Angst wie in der Vorhölle. Nur einer mit langen Haaren, etwa zehn Jahre älter und einen Kopf größer als ich, sitzt aufrecht da. Unsere Blicke treffen sich. Er dürfte Rechtsanwalt sein – ich nenne ihn jetzt so – ein Alt-68er?

Ein 50-Jähriger springt auf, stürzt durch den lastenden Dunst zur Tür hinaus, kommt nach ein paar Minuten zurück, tobt, beschimpft die Frau am Empfang. Fast alle Männer sacken noch mehr in sich zusammen, nur der Rechtsanwalt beobachtet aufmerksam die Szene. Die Verwaltungsange-
stellte weiß sich zu wehren, sie kennt das, sie brüllt zurück. Nach zehn Minuten setzt sich der 50-Jährige wieder, sinkt in den Stuhl. Um ihn herum gebeugte Köpfe, gebrochene Gestalten. Der Rechtsanwalt wird aufgerufen, die ihm folgende Nummer ist offenbar geflohen, dann komme ich dran, unterschreibe mehrere Formulare, warte weiter.

Später werde ich befragt, untersucht, Blutentnahme, ich warte, Harnstrahlmessung, Screening, anderes, die Zeit schleicht. Ich werde befragt, warte, Ultraschall, warte bis zum Ergebnis der Blut-
untersuchung. Den Rechtsanwalt sehe ich nicht mehr. Dann das Ergebnis. Ich soll mich in zwei Wochen zur OP auf der Station B2 einfinden. Vor dem Haupteingang der Klinik atme ich tief durch.

2. Tag, Freitag, 17. Juli

Um 8 Uhr 30 bin ich in der Station. Drei Männer harren im Aufenthaltsraum der Dinge, unter ihnen der Rechtsanwalt, der mich mustert; vielleicht kommen wir ins selbe Zimmer. Nach einiger Zeit werde ich untersucht, warte wieder, werde zum Vorgespräch gerufen, die Zeit zieht sich. Ich unterschreibe mehrere Formulare, gehe zum Vorgespräch mit der Anästhesie, warte. Ein weiterer Mann kommt, zierlich, volle, grau melierte Haare, wir taxieren uns. Er nimmt alles wahr, was hier kreucht und fleucht. Dann die Nachricht: Entweder könne ich schon Sonntag-Abend um 19 Uhr einchecken oder ich müsse am Montag um 6 Uhr 30 da sein, aber pünktlich!

Samstag und Sonntag: Telefonate, E-Mails mit der Bitte an meine Freunde: Besucht mich nicht, haltet mich nicht von der Forschung ab! Da komme ich jetzt in eine andere Welt. Wenn Ihr mich besucht, ist der ganze Müll der alten Welt mit ihrem Alltag präsent. Das lenkt mich nur ab. Ver-
steht das bitte. Dann werden Pflanzen versorgt, nach Waschmaschine, Kühlschrank und Öfen ge-
schaut, ich putze und staubsauge, frische Socken werden eingepackt …

3. Tag, Montag, 20. Juli

Das mittlere Bett im Zimmer 181 steht für mich bereit. Am Fenster liegt der feingliedrige, sensible Mann mit den vollen, grau melierten Haaren. Ich räume meinen Kram ein, lege mich ins Bett. Wir stellen uns vor. Er heißt Amar Salehrad, ist aus Persien, Drucker und Maler. Er sagt: „Ich habe Sie beobachtet.“ „Ich Sie auch.“

Die Türe öffnet sich. Der Mann vom dritten Bett erscheint, schon ausgehfertig. Während er seine Sachen in einer Reisetasche verstaut, fragt der Perser, woher er komme. Der Mann sieht aus wie ein eleganter mittelständischer Unternehmer aus Castrop-Rauxel, freundlich, selbstbewusst. Er sagt, er komme aus Sevilla. Wer hätte das gedacht! Aber jetzt ist auch zu sehen, dass er etwas tän-
zelt.

Er unterschreibt die Entlassungspapiere, steht auf, wendet sich uns zu: „Camaradas“, Kunstpause – seine Rechte hebt sich leicht und senkt sich dann zu einer gebenden Geste, „la vida es sueño.“ Während er von der Bühne abgeht, schaut er über die Schulter und winkt uns mit leichter Hand zu. Ganz in der Ferne sehe ich Al di Meola und Paco de Lucia, wie sie ihre Klampfen schrubben. Ein bisschen ist das auch zu hören.

Es klopft. Eine Kroatin kommt herein, dünn wie ein Strich, die Haut weiß wie ihr Kittel. Sie putzt, desinfiziert, entfernt Abfall, wischt. Wenn sie mit ihrem Lappen unter die Betten fährt, entschul-
digt sie sich in gebrochenem Deutsch. Dabei schaut sie auf den Boden. Am liebsten wäre sie un-
sichtbar. Jeden Tag ist sie ungefähr um 10 Uhr im Zimmer 181 auf der Station B2. Es herrscht hier Hierarchie; sie steht auf der untersten Stufe.

Amar dreht sich zu mir. „Komm, wir sagen ‚Du’. Weißt Du, die ersten 120 Jahre sind die schwer-
sten, dann wird es leichter.” Pause. „Weißt Du, das ist ok, dass Du hier bist. Wenn der Große mit den langen Haaren gekommen wäre, der wäre mir auch Recht gewesen, ein Mann, der beobachtet und klug ist. Der liegt jetzt zwei Zimmer weiter. Und jetzt bist Du da, ist ok.”

Wenn ich mich ihm zuwende, sehe ich hinter ihm in der weichen Morgensonne ein Wolkengetürm, höre den Straßenverkehr und wie in der Ferne ein Kuckuck ruft.

Ich frage ihn, er antwortet leise: „Mit meiner Frau bin ich 42 Jahre zusammen und ich liebe sie wie am ersten Tag. Mein Sohn heißt Nik, das heißt auf persisch ‚Der Gute’, und meine Tochter heißt Niousha, ‚Die Zuhörende’.” Er spricht wie ein Poet.

Das Armband, das mich vor Verwechslung bewahrt

Dann holt mich ein Transporter, der feixt: „Jetzt gehts zum Metzger.“ Ich grinse zurück. Keine Ahnung, wie viele Leute er täglich zur OP schiebt. Vermutlich sagt er immer denselben Satz. Dann freut er sich über die verschiedenen Reaktionen. Er sammelt charakteristische, die er in seine eigene Statistik aufnimmt. Ursprünglich hatte diese nur sieben Besonderheiten: Erschrocken, sprachlos, gefasst, hilflos, verzweifelt, spöttisch, mutig. Heute ist das Schema komplexer, seine Kategorien sind viel subtiler. Er saust mit mir in den blauen Neon-Röhren-Gang. Ta-tamm … ta-tamm …

Erinnerungen. Ich sehe, wie die Eltern des kleinen Jungen es geschafft haben; ein kleines Auto haben sie sich angeschafft. Zweimal im Jahr besuchen sie die liebe Verwandtschaft. Die Reise geht von München aus auf der Stuttgarter Autobahn nach Ulm, von dort dann nach Süden ins Illergries. Das Auto fährt nicht schnell und immer auf der rechten Spur. Der Junge sitzt hinten und blickt durchs linke Fenster nach unten auf die Straße.

Die Autobahn ist noch nicht geteert, sie besteht aus großen Granitplatten, deren Fugenhöhen vari-
ieren. Das Auto holpert im Rhythmus. Die Spalten zwischen den Platten machen ta-tamm … ta-tamm … ta-tamm … Jetzt stellt der Junge nur noch die Augen auf Fernsicht und schon bald setzt Trance ein, schwimmt er in die Grenzenlosigkeit. Die Eltern werden undeutlich, das Auto löst sich auf, ganz hinten ein Schlagzeug, ein Becken frasiert eine Taktverschiebung, Violinen und Celli un-
terlegen mit einem gleich schwebenden Ton: Ta-tamm … ta-tamm …, es könnte immer so weiter gehen.

Werde durch die blau schimmernden Gänge gefahren. Blick zur Decke. Die Prozession der Neon-
röhren. Ta-tamm … ta-tamm … dann geht es links um die Ecke, ta-tamm … ta-tamm … ta-tamm … ein weiterer Gang, noch einer, wieder links, noch einer ta-tamm … rechts ab, ein weiterer Gang, das könnte ewig so weiter gehen.

Die Anästhesistin: „Ich lege Ihnen jetzt den Zugang. Wenn Sie dann merken, dass die Flut steigt und Sie überschwemmt, sagen Sie das.“ Dann steigt die Flut, ich sage „jetzt“ und höre noch abge-
brochen „zwanzig …“. Jetzt ist es da, nicht einmal schwarz ist es, das bedeutungslose Nichts, ab-
sichtslos, willenlos, frei, schwerelos, zeitlos, fantastisch und sehr angenehm …

Zuerst sehe ich unscharf zwei große Augen über einer Schutzmaske. Eine Italienerin ruft mich. Nachdem die dunkelbraunen Augen wieder weg sind, stelle ich auf Fernsicht und sehe zunächst alles doppelt. Es ist wie bei Neugeborenen. Die Muskeln fangen an, das parallele Sehen zu koor-
dinieren. Noch schiele ich. Aber es wird besser. Raum ist wieder da und Zeit; Gedanken machen sich breit.

Nach längerem Aufenthalt im Aufwachraum kehrt die niedliche Italienerin zu mir zurück und meint, jetzt würde mich der Transport wieder auf die Station bringen. „Nein, bitte nicht, ich will bei Ihnen bleiben, weiter in Ihre Augen schauen!“ Sie macht einen kleinen Satz nach hinten und quietscht ein bisschen, lacht und wackelt mit dem Zeigefinger vor meiner Nase herum: „Nein, nein, nein, Sie kommen jetzt auf die Station!“ Ich wundere mich, dass ich das gesagt habe. Vermutlich kannst du so nur nach einer Vollnarkose reden oder wenn du alt und abgebrüht bist.

Der Transporter spricht zu mir: „Ich bin Grieche. Ich habe eine tolle deutsche Frau. Wissen Sie, ich bin Internationalist.“ Ich nicke ihm zu, die Faust erheben ist etwas schwierig. Die neonblaue Fahrt beginnt. Ta-tamm … ta-tamm … Fahrten auf dem Karussell sind immer zu kurz.

Oben angekommen sehe ich halb im Dusel schon bald, dass zwei der Schwestern sich so richtig sauwohl fühlen. Sie genießen ihre Ausstrahlung. Diese hilflosen Männer, die über Kanülen an Schläuchen hängen, sind keine Bedrohung. Die Schwestern wiegen honett die Hüften. Flirten ist möglich. Das macht den Alltagsstress erträglicher.

Eine hübsche Krankenschwester in einer Klinik „ist hübscher als irgendwo sonst, so wie ein ehrli-
cher Mann in der Politik mehr glänzt, als er es sonst irgendwo vermöchte“, sagte so oder so ähnlich einst Marc Twain auf seiner Reise durch Deutschland. Er dachte freilich an eine „hübsche Arie in einer Oper“.

Der Perser erzählt von seinem Land, seine Stimme lässt mich träumen. Ich tauche in den Fluss Sefid Rud, den „weißen“. Er schlängelt sich von den Bergen herab, schiebt sich durch zerklüftetes Gestein, schwillt an und ergießt sich bei Rasht, einer Stadt mit über zweieinhalb Millionen Einwoh-
nern, in die Südküste des Kaspischen Meers. Er schäumt um Felsbrocken, bedrängt das baumbe-
standene Ufer, mächtig, nicht wie diese jämmerliche Isar, die angeblich „rauschende“, die, einge-
zwängt in ein steinernes Korsett, vor sich hintröpfelt.

Amar betont, er spreche schlecht deutsch, was er bedaure. Perser modellieren die Worte ihrer Muttersprache in farbigen Melodien und variieren ihre Sätze rhythmisch. Das gelinge ihm im Deutschen nicht. Ich antworte: „Du sprichst besser Deutsch als manche Deutsche, die ich kenne.“ Er schließt die Augen, wartet, dann spricht er leise singend und nimmt mich mit auf eine Reise:

Durch den Hyrkanischen Regenwald, der die Südküste des Kaspischen Meers umarmt und mit seiner überbordenden Flora, mit dem Eisenholz, der Zelkove, der Stechpalme, dem Seidenbaum und vielen außergewöhnlichen Pflanzen von den Tälern in die Höhe steigt, streifen Leopard, Luchs, Braunbär, Wildsau, Wolf, Goldschakal, Rohrkatze und der Dachs. Satte Feuchtigkeit. Dichtes Grün aus Lianen und Flechten. Kaum fällt auch bei hellstem persischen Sonnenlicht draußen ein Licht-
strahl durch das Blätterdach. Ein dicker weicher Teppich aus Moos und gefallenen, vermodernden Zweigen dämpft in der diffusen Dämmerung den Schritt. Weiter oben in luftigeren Höhen wachsen Eichen, Buchen, Kastanien und Ahorn.

Hinter den Bergen ragen noch höhere. Wir steigen hoch, treiben ein wenig nach Westen, in die ira-
nische Provinz Westaserbeidschan, sehen oberhalb der Baumgrenze das mauerbewehrte Qarah Kelīsā, die „schwarze Kirche“, auf altem armenischen Land, hören den Klang der armenischen und kurdischen Sprache, ertasten die kunstvolle Kalligrafie der Perser, Aserbeidschaner und Armenier. Die „Schwarze“, die bescheidenste Kirche unter dem Himmel, zählt bald 2000 Jahre. Kurz hinter der Grenze zur Türkei erhebt sich der über 5.000 Meter hohe Berg Noahs, der Ararat mit seinem kurdischen Namen Çiyayê Agirî, der „feurige Berg”, dessen Gipfel auch dann, wenn das abendliche Zwielicht das Land schon ins Dunkelviolett gehüllt hat, noch in der Sonne leuchtet.

Amar nimmt mich mit. Gesänge ringsumher, rieche gedünstetes Lamm, Gemüse, Gewürze, sitze mittendrin, trinke Čāj, Töne perlen, du lauscht dem Flug der Krauskopfpelikane, dann hörst du das Liebesgeflüster Leylas, der „Nacht“, mit Madjnoun, dem „Besessenen“. Der Musiker weiß: Ein hal-
bes Leben benötigt er, bis er den Santūr richtig stimmen, ein weiteres halbes, bis er ihn spielen kann. Bevor er den Tombak trommelt, eint er seine Finger und Handgelenke. Seine Rhythmen werden zu Versen. Der Galopp legendärer Reiterhorden verebbt, bis in die Stille hinein die Sehn-
sucht der Mystiker nach dem Absoluten klingt.

Dann setzt neuer Wirbel ein, alle tanzen ausgelassen, ziehen mich mit, bis sich Wolken auftürmen und die Landschaft verdunkeln. Ein böser Wind faucht von Westen her über die Berge. Sogar die Wanderfalken schießen herab und flüchten. Der Perser dreht sich zu mir um, reicht mir von Bett zu Bett sein Handy und zeigt das Bild dreier 15-Jähriger. Die Mullahs wollen Amirhossein, Saeid und Mohammad aufhängen, weil sie an den Massenprotesten im November des letzten Jahres ge-
gen eine von der Regierung angeordnete Erhöhung der Benzinpreise teilgenommen hatten. Amar weint: „Die machen meine Heimat kaputt, zerstören unsere Kultur, unsere Sprache, unsere Lieder. Es ist ein Alptraum.“

„Lass ihn jetzt in Ruhe“, denke ich. Sehe zu ihm rüber. Seine Augen sind geschlossen. Unmerklich, fast unmerklich nickt er mit dem Kopf.

Eine halbe Stunde später. Es könnte jetzt richtig schwierig werden. Der Perser ist sich nicht sicher, ob er Atheist oder Agnostiker ist. Wenn etwas Göttliches in der beseelten Natur läge, hätte es mit Sicherheit keinen zielgerichteten Willen. Gäbe es einen Gott, wäre dieser ein zynischer Spieler, der würfelt, ein alter Sadist, der Spaß habe am Leid seiner Geschöpfe.

„Dieser Gott ist nur erbärmlich!“ Amars Stimme zittert vor Verachtung. Mit seiner Rechten deutet er auf das Holzkreuz, das im Zimmer soweit oben angebracht ist, dass niemand es abnehmen kann. „Lass ihn jetzt in Ruhe“, denke ich.

Eine halbe Stunde später. Ich erinnere mich, wie hier in München die Mitglieder der „Confödera-
tion Iranischer Studenten/National-Union“ (CISNU) von den SAVAK-Leuten (iranische Schlapp-
hüte) bespitzelt wurden, erinnere mich, wie sechsundsechzig mutige iranische Studenten am 4. August des Jahres 1970 schwarze Kapuzen aufsetzten und mit einigen deutschen Genossen die iranische Botschaft in der Möhlstraße besetzten, auch auf die Gefahr hin, verhaftet und in den Iran abgeschoben zu werden, erinnere mich an den Hungerstreik, den Polizeieinsatz, die Verhaftungen, die Urteile.

Amar nickt: „Der Schah war grauenhaft. Anfang 1970 waren über 1000 Oppositionelle verhaftet und gefoltert worden. Heute sind die Mullahs entsetzlich. ABER! Wenn die Yankees zu uns kom-
men, um uns ihre seltsame Demokratie zu offerieren, werden sie die Hölle erleben.“

Pazifismus oder Militanz? „Amar, sollen sich die Kurden mit Waffen verteidigen, wenn sie von ‚Grauen Wölfen‘ oder vom türkischen Militär massakriert werden?“ Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, er starrt an die Decke. „Natürlich!“ „Auch wenn sie Militanz mit Militanz beantworten und damit die Eigenschaften und das Verhalten ihrer Todfeinde annehmen?“ Er schaut mich an. „Manchmal, nein, OFT reichen Worte nicht aus. Dann gibts keine Alternative mehr, nur noch diese eine, die andere Sprache. Was hatten die Armenier davon, dass sie sich einfach abschlachten ließen?!“

Es klopft. Ein etwa 50-jähriger, großer, runder, bebrillter Mann betritt das Zimmer. In der Hand hält er eine mächtige Reisetasche. Er bekommt das Bett des Spaniers. Auf dem Poloshirt, das sich eng über seinen Bauch spannt, steht „Mustang“. Er könnte ein Handlungsreisender sein, er stellt sich mit lustigem Berliner Dialekt vor und nennt sich angestrengt „Außendienstmitarbeiter“. Seine Witze klingen gepresst. Er schwitzt unter den Achseln und entschuldigt sich dafür, dass er jetzt da ist. Es klingt so, als ob er darum bittet, nicht geschlagen zu werden.

Er steht unter Stress. Nicht erst hier. Die Firma sitzt ihm im Nacken, die Kunden, die Angehörigen. Alle wollen etwas von ihm. Mir sitzt Arthur Miller im Nacken. Bitte lass ihn anders sein, bitte lass ihn nicht so sein wie den bei Miller!

Ich schließe die Augen. Ein Bild entsteht: Diese Seele leidet unter Verstopfung. So schwillt sie an, wird größer, runder. Das zeigt sich auch im Äußeren. Was kannst du machen, wenn du mit einer solchen Seele in Kontakt kommst? Zu Beginn kannst du noch mit einer Stecknadel hineinstechen, damit der Überdruck nachlässt, damit etwas zum Fließen kommt. Vielleicht brauchst du aber schon eine Stricknadel. Wenn du mit solch einer Seele zusammen bist, siehst du, wie sie immer größer wird und runder und ihre Haut ledriger, fester, strammer. Wenn du deine Chancen verpasst hast, wird sie dich irgendwann platt walzen. Dann hilft auch kein Hammer mit Stahlnägeln. Dann kannst du nur noch abhauen.

Können verstopfte runde Seelen Beziehungen eingehen? Vermutlich nur mit ebenfalls kugelrun-
den, verstopften Seelen. Ich sehe seine Frau vor mir. Hoffentlich täusche ich mich, hoffentlich habe ich keine Vorurteile.

Er spricht davon, dass er ganz schnell wieder raus muss. Er habe keine Zeit für diesen Kram hier, Krankenhaus und so.

Dem kleinen Therapeuten in mir, einem ziemlich unangenehmen Patron, liegt eine Frage auf der Zunge: „Wollen Sie denn in zehn Jahren immer noch das Gleiche tun wie heute?“ Zum Glück gibt es einen weiteren Quälgeist in mir, ich nenne ihn „Flocki“. Der hüpft hoch und schlägt dem Thera-
peuten gezielt auf die Nase, so dass der erst mal mit sich selbst beschäftigt ist.

Da meldet sich der Perser: „Wissen Sie, Sie könnten etwas für sich tun, Sie sollten Yoga machen oder Tai Chi, das hilft Ihnen.“ „O je,“ denke ich, und der runde Mann schnauft: „Für so was habe ich keine Zeit.“ Amar setzt noch mal an, will sagen, „Sie bekämen aber damit Zeit“, und stoppt, als ich ihn ansehe. Sein Blick sagt: Es ist grausig, hilflos zusehen zu müssen, wie sich andere ruinieren und zugleich ruiniert werden. Hinter ihm lässt die satte Abendsonne eine Wolkenwand erglühen.

Ich muss jetzt auf die Toilette, ziehe den rollenden Infusionsständer mit seinen Flaschen, Beuteln und Schläuchen mit mir und hinterlasse eine Spur blutiger Pfützen. Dann falscher Alarm, sinnlos die ganze Mühe! Beim Rückweg versuche ich den Pfützen auszuweichen und hinterlasse eine zwei-
te Spur. Es ist mir peinlich; ich kann die Sauerei nicht beseitigen. Habe ich mir selbst einen Streich gespielt, hat jetzt etwas in mir protestiert? Gegen dieses Angehängtsein?

Die Nacht dreht sich um den runden Mann. Erst ist es noch friedlich, dann setzt sein Atem aus, dann knallen die Polypen, Granaten heulen, er schnappt nach Luft, Maschinengewehrfeuer setzt ein, plötzlich Todesstille, ein Röcheln aus den Stirnhöhlen, der schwere Leib wälzt sich, Luft knat-
tert, Schnarchen ist das nicht! Bange Minuten, dann schafft sich Luft mit einem Knall Luft und wieder Luft. Luft schafft sich Luft. Mit Gewalt.

Ohropax ist wirkungslos, Meditation unmöglich. Neue Granaten werden abgeschossen. Sperrfeuer mäht den Feind nieder. Es scheppert. Die beiden Heere haben schwere Verluste, aber sie stehen in den Stellungen, eisern. Für kurze Zeit ist Ruhe. Die feindlichen Generale haben ihre Taktik, kennen ihre Schlachtpläne, einer von beiden wird JETZT angreifen. Kanonen eröffnen die Partie, schweres Feuer von den Flanken, Einschläge kommen näher, Bomben detonieren, die Betten beben. Der Leib wälzt sich.

Es ist Krieg. Ich hänge an mehreren Schläuchen. Kann nicht weg. Kann mich nicht mal auf die Seite legen. Flüssiges träufelt in mich. Aus mir läuft eine trübe Brühe in einen großen roten (!) Eimer. Auf dieser Brühe wölbt sich rötlicher Schaum. (Klar, dass der Eimer rot ist. Wäre er weiß oder hätte er eine andere Farbe, würde sein Inhalt noch mehr auffallen. Kluge Entscheidung, das mit dem roten Eimer!)

Schlafen ist unmöglich. Links neben mir im Halbschatten liegt Amar. Seine Augen sind weit ge-
öffnet. Wir beide warten auf die nächste höllische Schlacht, bis der Morgen graut.

4. Tag, Dienstag, 21. Juli

Ich sehe nach oben auf die drei Flaschen, aus denen die Tropfen in die Schläuche fallen. Ich sehe nach unten, wie etwas Braunrotes aus mir herausläuft in einen durchsichtigen Beutel, der regelmä-
ßig mit einem Hahn geöffnet wird, damit die Soße in den roten Eimer schäumt. Was für ein Dreck da aus dem Menschen herausfließt! Und der Dreck will doch gar nicht raus!

Ziemlich heftig pocht es an die Innenseiten der Schläfen. Schmerzen, wie ich sie noch nie hatte. Der Körper beginnt zu zittern, ich muss meine Hände festhalten. Eine Schwester rennt raus, kommt mit einer älteren serbischen Schwester zurück. Der Blutdruck ist viel zu hoch, der Puls 99. Ein Gefühl, als ob mir der Kopf platzt. Ein Gefühl, als ob der Dreck nicht aus mir raus will.

Die Serbin schaut ernst, wechselt einen Tropf aus, telefoniert mit dem Stationsarzt, schiebt mir eine Kapsel zwischen die Zähne, die ich zerbeißen, aber nicht schlucken soll. Schon bald kann ich meine Hände loslassen, die Schatten, die ich an der Wand sah, verblassen, die trübe Brühe fließt, der Schmerz ist nur noch von der Ferne zu spüren.

Die Serbin schaut mich ziemlich ernst an. Ihr Blick prüft. Ich sage zu ihr, Amar und ich, wir bräuchten für die kommende Nacht eine Schlaftablette. Herr Salehrad, sagt sie, bekomme keine, weil er erst heute unters Messer komme. Ich bekäme eine.

Sie bleibt noch eine Weile. Dieses Plätschern im roten Eimer erleichtert. Ist er voll, schleppt ihn eine andere Schwester raus und bringt einen neuen leeren. Die Serbin legt kurz den Kopf in den Nacken, ein letzter Blick, dann verlässt sie den Raum.

Der runde Mann entschuldigt sich immer wieder. Er wisse, wie laut er sei. Und er stehe unter enormen Druck, er sei „Außendienstmitarbeiter“, wiederholt er sich. Seine Hände sind mit einem Smartphone verwachsen. Unablässig drückt und wischt er. Der Klingelton spielt den Galopp aus der Ouvertüre zu „Wilhelm Tell“ von Rossini. Sein Chef ist am Apparat. Der runde Mann: „Ja, ich bin hier in der Klinik … richtig … ja, ja, es ist alles ok … richtig … natürlich! Das machen wir …“ Er schnauft erschöpft.

Die Türe rumpelt auf. Jetzt holen sie Amar. Ich winke ihm zu. Er ist augenscheinlich froh, dass er endlich dran kommt. Kurze Zeit später klopft es. Die Frau des runden Mannes kommt, füllig, ge-
drungen mit strähnigem Haar. Auf einem knappen rosa Shirt prangt über dem hochgeschnürten Busen die glitzernde Aufschrift „Hollywood“. Sie sieht so aus, wie ich es befürchtete. Krampfadern übersähen die dicken weißen Waden unter der knielangen Hose. Etwas habe ich nicht vorausge-
sehen: Sie zieht beim Gehen den linken Fuß nach.

Die beiden tauschen sich über Fragen des Haushalts und über Familienangehörige aus. Auch Be-
kannte werden erwähnt: „Du, die Biggi fragt nach Dir.“ Währenddessen ordnet sie seine Sachen aus der mächtigen Reisetasche in den Schrank.

Amar wird wieder hereingerollt und an den Infusionsständer angeschlossen. Die Frau des Hand-
lungsreisenden steht am Fenster. Amar fragt sie leise: „Haben Sie denn Ihren Mann vermisst?“ Schweigen. Dann ein Genuschel: „Ja, na ja“, und nach einigen Sekunden, „er ist ja da.“ Bekomme ein mulmiges Gefühl, ist das jetzt wirklich so geschehen? Ich mache Notizen, kann aber später das Gekrakel fast nicht entziffern.

Sie holen den runden Mann zum Eingriff, seine Frau geht. Er kommt zurück und ist vergnügt. Für die Nacht bekommt er ein Spezialkissen. Er kann nur auf der Seite liegen. Sein Schnarchen ist nicht mehr so schlimm. Der Krieg ist vorbei. Nur ab und zu finden heftige Scharmützel statt.

Bei Amar müssten etwa alle drei Stunden die Infusionen gewechselt und der Eimer geleert werden. Mit Schlaftablette bekomme ich nicht alles mit. Eine Schwester vergisst in den Morgenstunden die Prozedur. Das abfließende Blut ist zum Teil gestockt. Die Infusionen sind leer.

Ich kann schlafen. Stehe im Traum in einer Menge Gestalten, die auf mich zukommen und um mich herum fließen. Eine Figur, die mir entgegen tritt, trägt eine lang herunterhängenden sand-
farbenen Poncho, auf dem Kopf eine Mütze, wie sie die Peruaner tragen. Die Augen sind schräg gestellt und etwas geschlitzt. Sein Mund wird breiter, er grinst und geht nicht an mir vorbei, son-
dern zur Hälfte durch mich hindurch. Kann es sein, dass er weiter gegangen ist und zugleich in mir geblieben? Mir wird richtig warm. Ich stehe weiter im Strom dieser vielen Gestalten. Dann ver-
blasst das Bild. Sonst wache ich nach Träumen auf, wenn ich mich an sie erinnere. Leider schlafe ich weiter und bemerke nicht, was neben mir geschieht.

5. Tag, Mittwoch, 22. Juli

Ich wache auf und sehe, dass Amar grüngrau da liegt, wie gekotzt. Das Bett blutverschmiert. Drau-
ßen auf dem Gang sind mehrere Alarme zu hören. Türen schlagen, aufgeregtes Hin und Her. Der Stationsleiter eilt in unser Zimmer. Er ist schon jetzt gestresst, aber seine routinierten Handgriffe sitzen. Einige Zugänge werden abgesperrt, neue Infusionen aufgehängt, die roten Eimer aus dem Zimmer geschleppt. Der Stationsleiter bleibt konzentriert, macht alles, was nötig ist, für Freund-
lichkeit hat er keine Energie mehr übrig.

Eine neue Schwester kommt, ruhig und warm, bleibt bei Amar, reguliert alles ein. Er krümmt sich vor Schmerzen. Eine weitere schmerzstillende Infusion wird gelegt. Nach einiger Zeit entspannt sich der Körper.

Bei mir werden sämtliche Zu- und Abgänge entfernt. Ich soll soviel trinken wie ich kann und nicht erschrecken, weil noch jede Menge Blut im Urin sei.

Fast alle Schwestern und Pfleger leisten viel mehr, als man ihnen eigentlich abverlangen kann. Einige von ihnen sind IMMER NOCH sehr herzlich zu den Patienten. Andere werden mit ihrer Wut nicht fertig; sie schlagen die Türen, sind unwirsch, machen nur noch das Nötigste. Sie alle sind so in die Maschine eingespannt, dass sie gar nicht daran denken zu streiken. Es ist unerhört!

Amar muss sich mehrmals übergeben, sein Magen krampft, er ist verzweifelt. Seine Augen sind traurig und müde. Ich setze mich auf den Tisch am Fußende seines Bettes und erzähle ihm, wie es sein wird, wenn er als freier Mann die Klinik verlassen kann. Das sei ein Gefühl, da gebe es keine Worte dafür. Fahl wie er ist, lächelt er doch ein wenig. Für die Nacht wird er zusätzlich eine se-
dierende Infusion bekommen.

Der runde Mann wird schon entlassen. Wenig später kommt ein neuer Leidensgenosse herein. Etwa 40 Jahre alt, Brillenträger, Glatze, ein stiller Mann. Er geht auf Zehenspitzen. Nichts ist zu hören, während er seine Wäsche akkurat ins Fach einschlichtet. Er trägt kurze Hosen. Sein Poloshirt zeigt gedeckte Farben. Auf der Brust steht „20 Hours day light – life is easy – Marc O Polo“.

Sein ganzer Körper flüstert, „bitte beachtet mich nicht. Es bereitet mir Pein.“ Zwei-, dreimal am Abend bin ich davon überzeugt, dass da niemand ist. Ich richte mich auf und linse ins Bett des Nachbarn. Er liegt da, hält die Augen geschlossen und atmet beinahe unmerklich. Obwohl ich ihn sehe im schattenhaft undeutlichen Schein, er ist unsichtbar. Ob er jetzt schläft oder nur so tut?

Leise rede ich mit Amar. Er sieht mich mit großen Augen an: „Weißt Du, ich war in Baku. Entsetz-
lich. Alles stinkt nach Öl. Modernste Paläste haben sie ins Zentrum der Stadt gestellt. Hochhäuser. Schon zwei Straßen weiter beginnen die Slums. Überall Korruption in Aserbeidschan. Ich habe es gerade mal eine Stunde dort ausgehalten.“

Die Nacht ist erträglich. Ab und zu stöhnt Amar. Eine neue Schwester trägt den Eimer mit seinem Blut hinaus.

6. Tag, Donnerstag, 23. Juli

Der stille Mann wird zu OP geholt. Vorher wird er umgekleidet. Er trinkt noch einige Schlucke und sagt leise: „Mein letztes Wasser!“ Es klingt wie „mein letzte Abendmahl“. Ich sage zu ihm: „Nein, danach werden Sie noch viel Wasser trinken.“ Er schaut mich an.

Dann soll ich zum Schlussgespräch mit der freundlichen Stationsärztin. Lese noch mal meine Notizen durch. Hoffentlich wird der Text nicht eine krude Mischung aus dumpfem Ethno-Kitsch, Castaneda, Harry Potter und schlicht gestrickter Küchenpsychologie.

Ich gehe. Verabschiede mich von Amar. Wir sind zwar beim „Du“, aber ich stelle mich breit hin, denke, was der Spanier aus Sevilla kann, das kann ich auch, und räuspere mich: „Agha Amar Salehrad, das stehen Sie jetzt durch, weil Sie noch gebraucht werden, von ganz vielen, von uns allen, weil Sie geliebt werden von Ihrer Frau und Ihren Kindern und weil das Leben fantastisch ist.“ Am Niveau meines Auftritts habe ich Zweifel. Komme mir armselig vor. Amar lächelt mich an, als ob er mich trösten will, sein Gesicht bekommt etwas Farbe.

Ich gehe, soll gehen, weil ein anderer auf mein Bett wartet, bin hin- und hergerissen. Aber ich will hier ganz schnell raus.

Der Taxifahrer, der mich nach Hause fährt, erzählt mir von seiner Frau, einer Krankenschwester. In sein Großraum-Taxi passen ein Dutzend Passagiere. Er sagt, da sie beide arbeiteten, kämen sie knapp über die Runden. Seine Frau berichte, sie habe Kolleginnen und Kollegen, die in ihrer Zeit außerhalb des Dienstes noch Essen ausfahren würden oder zum Putzen gingen oder noch ganz anderes täten, das wolle er gar nicht beschreiben.

Seine Stimme wird laut, die Augen weiten sich zornig, er funkelt mich an: „Niemand ist so verach-
tenswert wie die Politiker, die das zulassen.“ Und dann: Er fahre oft Menschen vom Flughafen, die dort mit ihrer Privatmaschine gelandet seien, in Münchner Kliniken. Ganze Entouragen. Reiche Leute, nicht nur Scheichs oder Chinesen, aus der halben Welt kämen sie. Er mag sie nicht. In Klini-
ken gebe es große Einzelzimmer und ganze Suiten mit Privatbediensteten. „Sind nicht alle Men-
schen gleich!? Sollten nicht alle Menschen gleich gut behandelt werden?!“

Ich bin verblüfft. Das habe ich schon lange nicht mehr gehört. Als ob die Menschen je gleich gewe-
sen wären! Als ich später in meinem eigenen Bett liege, bin ich glücklich. Das Wort „glücklich“ reicht da gar nicht aus.

Günther Gerstenberg