Materialien 1988
Die Rache der Patriarchen
Das Strommastenurteil in München
Von Rolf Lobeck
In München sind jetzt die ersten Urteile gegen Personen gefällt worden, die unter Berufung auf die Katastrophe von Tschernobyl Strommasten umgesägt hatten, um ihrem Protest gegen die unge-
minderte Stromerzeugung durch Kernreaktoren in der Bundesrepublik Ausdruck zu geben.
Das Strafmaß ist drastisch: 9 und 6½ Jahre; 18 Monate wegen Beihilfe. Die Höhe setzt den Pegel für eine Reihe weiterer Urteile dieser Art in der nächsten Zeit. Nach der geplanten Verschärfung der Rechtsprechung bei Eingriffen in die Energieversorgung müssen Angeklagte künftig eher mit Haftstrafen bis zu 15 Jahren rechnen – der üblichen Höchststrafe in der Rechtsprechung gegen Terroristen bei vermuteter Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung.
Nun ist es selbstverständlich, dass in einem bürgerlichen Rechtsstaat Sachbeschädigung, erst recht, wenn sie durch Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erschwert ist, exemplarisch bestraft wird –, gerade, wenn sie nur Ausdruck politischer Ohnmacht ist. Doch werfen die Münchener Ur-
teile Fragen und Assoziationen politischer Art auf, die sich nicht unterdrücken lassen.
Da ist zum einen die Gleichzeitigkeit des Umgangs mit Atommanagern in Hanau und anderswo, die offensichtlich eine weit größere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit für sich in Anspruch nehmen dürfen – von Wirtschaftsdelikten einmal ganz abgesehen –, und die, wie sich gezeigt hat, in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen werden können.
Andererseits werden Nachrüstungsgegner und Gegner von Atomkraftwerken wegen aktiven oder passiven Widerstands mit jeweils unverhältnismäßig hohen Strafen kollektiv abgeurteilt. Doch verfährt der öffentliche Umgang mit den Urteilen bemerkenswert unterschiedlich: Wenn gegen-
wärtig eine mögliche Amnestie von Nachrüstungsgegnern und Personen der Terrorszene von Poli-
tikern und einem Teil der Presse befürwortet wird, so ist von den gleichen Sprechern Nachsicht gegenüber den meist jugendlichen Tätern, die Strommasten umlegen, nicht zu erwarten. Eine Kri-
tik an den Münchener Urteilen hat man jedenfalls von dieser Seite in diesem Sinn nicht vernom-
men.
Es drängt sich hier weniger die Frage auf, ob die Justiz in der Bundesrepublik eine Klassenjustiz ist, als vielmehr die Wahrnehmung eines anderen Antagonismus. Die Bundesrepublik ist von Be-
ginn an kriegs- und kulturbedingt ein Land mit einem hohen Anteil älterer Menschen an der Ge-
samtbevölkerung, ein Zustand, der sich ständig zugunsten einer weiteren Überalterung verschiebt. Er spiegelt sich in einer grundsätzlichen und fortgesetzten Unfähigkeit des Umgangs der älteren Generationen mit den jüngeren und einer entsprechenden gesellschaftlichen Perspektivlosigkeit auf beiden Seiten. Man kann von einer gegenseitigen Aufkündigung des Generationenvertrages mit dem Argument der Geburtenziffer sprechen. Sämtliche Möglichkeiten einer Aufhebung dieser Kommunikationslosigkeit wurden im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik zugunsten einer permanenten Restauration und Verschärfung von alten patriarchalischen Verhältnissen vergeben. – Was an emanzipatorischen Entwicklungen in der Jugend stattgefunden hat, vor allem unter der Wirkung der Studentenbewegung, ist vorwiegend aus der Jugend selbst hervorgegangen und nicht in wechselseitiger Kommunikation mit den älteren Generationen.
Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass die älteren Generationen in diesem Land sich den Dialog mit den jüngeren immer nur als Eingrenzung, Unterdrückung und Bestrafung vorstellen können – bis hin zu pathologischen Rache- und Sexualvorstellungen. Das gilt auch für das Verhält-
nis zu den Frauen.
Das historische Scheitern der SPD beim Versuch, die Jüngeren an der Politik in der Weise zu betei-
ligen, dass sie nicht nur die überkommenen Staatsinteressen hätten weiter vertreten dürfen, son-
dern ein Bindeglied zwischen den Interessen der Jugend und den vergangenheitsbeladenen Älte-
ren hätten darstellen können, hat zu einer zweiten Restauration in der Geschichte der Bundesrepu-
blik geführt. Ihr Ende wird vermutlich nur in der Unmöglichkeit der Integration gegenwärtiger und zukünftiger Generationen von meist jugendlichen Beschäftigungslosen liegen, parallel zur er-
warteten Resignation der älteren Arbeitslosen und nutzloser Arbeitnehmer, von der Rolle der Frauen ganz zu schweigen.
Von diesen Überlegungen ausgehend, ist ein anderer Umgang mit kritischen, auch scheinbar selbstzerstörerischen, Minderheiten eine Frage des Überlebens der Bundesrepublik, die von den intellektuellen und praktischen Ressourcen dieser Gruppen leicht profitieren könnte. Zumindest zählen diese zu den Intelligentesten im Land.
Ein geänderter Umgang mit ihnen, dessen Folge eine Verminderung politischer Straftaten und eine Amnestie bereits im Vorfeld sein würden, würden allerdings die Verhaltensformen einer Gesell-
schaft, die Erziehung vorwiegend als Unterordnung bis – in letzter Konsequenz – als Ausrottung verstehen, auf eine harte Probe stellen.
Deutsche Volkszeitung/die tat 14 vom 8. April 1988, Düsseldorf, 2.