Materialien 1988

Buchhändlerpflichten

In einem offenen Brief an den Börsenverein des Buchhandels haben Buchhändler aus München erläutert, wie von staatlichen Stellen Druck ausgeübt wird, um Buchhandlungen als Vorzensur-
behörden zu missbrauchen oder in den Verruf fahrlässiger Vertreibung von Büchern zu bringen. Der Wortlaut:

„Sind Sie sich dessen bewusst, dass so mancher ganz zivil aussehende Kunde ein Scheinkäufer im Auftrag des Staates ist? Wissen Sie, dass Sie für den Inhalt einer jeden Publikation verantwortlich sind und dafür strafrechtlich belangt werden können?

Seit einiger Zeit häufen sich Gerichtsverfahren gegen Buchhändler/innen. Der Verkauf politisch unliebsamer Zeitschriften führte vielerorts zu Anklagen wegen „Unterstützung einer terroristi-
schen Vereinigung“ (§ 129a, Abs. 3 StGB) und zu Verurteilungen zu mehrmonatigen Gefängnis-
strafen. In München belangt man außerdem seit 1986 Buchhändler/innen wegen „Fahrlässiger Veröffentlichung“ nach § 11, Abs. 3 des Bayerischen Pressegesetzes, den Rechtsanwälte wohl zu Recht „Zensurparagraph“ nennen.

Am 19. April hat jetzt das Bayerische Oberste Landesgericht die frühere Geschäftsführerin des Bü-
cherladens „Tramplpfad“, München, die zunächst auch nach § 129a angeklagt war, auf der Grund-
lage dieses Pressegesetz-Paragraphen zu einer hohen Geldstrafe verurteilt.

Ebenso wurde die Geschäftsführerin der Basis Buchhandlung, München, zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Zu unserer Empörung haben bislang weder Börsenverein noch Gewerkschaften, noch der Großteil der betroffenen Kolleginnen und Kollegen in Verlagen und Buchhandlungen dazu Stellung genommen.

Wir meinen, dass mit solchen Anklagen und Urteilen eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, die nicht nur ein paar „Linke“, sondern den Buchhandel in seiner Gesamtheit betrifft. Offenbar will der Staat verstärkt die Vermittler von Informationen als Vorzensoren in die Pflicht nehmen. Dies be-
deutet eine unerträgliche Einschränkung der buchhändlerischen Arbeit und letztendlich eine Strangulierung jeglicher kritischen Äußerung und ihrer Verbreitung, denn bei der Entscheidung, was unter ein Verdikt fällt, bleibt staatlicher Willkür Tür und Tor geöffnet.


Deutsche Volkszeitung/die tat 26 vom 1. Juli 1988, Düsseldorf, 10.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Zensur