Materialien 2020

"querdenker_1"

Etwa um 15 Uhr bin ich auf der Wiesn angelangt. Es sind Tausende Menschen da. Mich ärgert schon lange die einseitige Berichterstattung der Mainstream-Medien. Ich beobachte, dass in ihnen immer exemplarisch die besonders auffällig Verrückten zu Wort kommen, damit der ganzen Ver-
anstaltung ein Etikett aufgeklebt werden kann. Ich nehme mir vor, „gerecht“ zu sein und stelle fest, dass ich nirgends Reichskriegsflaggen oder Fahnen sehe, die dem rechtsextremen Spektrum zuzu-
rechnen sind. Dafür sind Regenbogenfahnen und Friedenstauben vertreten, die man fotografieren könnte. Alle halten sich an Abstandsregeln, ein Mund-Nasen-Schutz ist kaum zu sehen. Jetzt aber stelle ich fest, dass ich mich doch vor allem für die „Spinner“ interessiere. Nein, diese Bildauswahl ist ungerecht. Und eine Beobachtung beschäftigt mich: Wenn ich mich nicht täusche, sind viele der Anwesenden Einzelgänger. Einige haben in mühevoller Kleinarbeit Plakate gebastelt, die mit Folie beklebt im Sonnenlicht so sehr spiegeln, dass sie unlesbar sind. Andere irren etwas orientierungs-
los herum, als ob sie einen Gesprächspartner suchen. Einige sind überzeugt davon, zu einer ver-
schworenen Gemeinschaft zu gehören. Mit einer jüngeren Demonstrantin komme ich ins Ge-
spräch. „Sie wissen doch“, meint sie, „unsere Politiker sind alle gekauft.“ Ich versuche, ihren mo-
ralischen Ton zu hinterfragen. Da lässt sie mich stehen und geht. Später erfahre ich, dass Mitarbei-
ter der städtischen Fachstelle für Demokratie mehr als vierzig Rechtspopulisten und Rechtsextre-
misten bei der Kundgebung entdeckten, die sich in ihrem Habitus nicht von anderen bürgerlichen Demonstranten unterschieden. Offenbar hatten sie die Parole ausgegeben, auf Abzeichen, Banner und Fahnen zu verzichten.


Text und Fotos: Richy Meyer

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Bürgerrechte