Materialien 2020
Corona-Grummler
Lieber Günther,
für die Antideutschen sind natürlich alle anderen wahlweise „Querfrontler“, Kapitalismuskritik-Verkürzer oder „Antisemiten“. Ich mag das nicht mehr hören. Ich weigere mich, diesen Unsinn ernst zu nehmen, dass die kleinbürgerlichen Demonstranten auf der Theresienwiese alle irgend-
welchen Nazis hinterher rennen würden, denn das Gegenteil ist der Fall: Die Nazis suchen als Trittbrettfahrer Anschluss an diesen diffusen Haufen, der gegen die staatlichen Corona-Maßnah-
men aufbegehrt, wie schräg auch immer, und leider ohne klare Abgrenzung gegen Rechts. Aber deshalb sind die „Wutbürger“ nicht alle durch die Bank Corona-Leugner, Impfgegner oder Esote-
riker, sondern halt schlicht „Corona-Grummler“.
Den meisten von denen geht es um ein trotziges Aufmucken gegen die Obrigkeit wegen der Mas-
kenpflicht oder wegen unsinniger Versammlungsbeschränkungen, um eine Machtprobe „mit denen da oben“. Das sollte uns Linken eigentlich nicht verwerflich erscheinen, wenn Leute das hinterfragen, was teilweise tatsächlich fragwürdig ist. So hat beispielsweise eine Begrenzung von Teilnehmerzahlen auf der riesigen Theresienwiese nichts mit Gesundheitsschutz zu tun, vielmehr mit staatlicher oder städtischer Machtdemonstration. Ähnlich fragwürdig sehe ich die ab Donners-
tag geltende Maskenpflicht auf bestimmten Plätzen bzw. in der Fußgängerzone: Eher als hilflosen Versuch, die ordnungspolitischen Versäumnisse des KVR am letzten Samstag auf dem Viktualien-
markt zu kaschieren: Drei bis vier Polizisten mit ein paar Platzverweis-Formularen hätten genügt, um die bierselige Meute aus ihrem Ersatzwiesn-Getorkel aufzuschrecken und zu zerstreuen. Aber nein, jetzt müssen Passanten, die ohnehin auf 1,5-Meter-Abstand achten, sich unter freiem Him-
mel vermummen und bei Kundgebungen auf weiträumigen Plätzen bald noch Motorradhelme überstülpen.
So subtil subversiv kann man natürlich auch vorgehen, um bürgerlichen Ungehorsam und Krawal-
le zu provozieren. Vielleicht geht die nächste Jugendrebellion vom Rondell am „Gärti“ aus, – und in die Geschichte ein als „Isarvorstädter Corona-Rabatz“. Ich befürchte allerdings, dass daraus kein zweites ’68 wird, sondern eine ubiquitäre Ganzjahres-Wiesn bis weit in die Zwanzig-Dreißiger Jah-
re hinein. Purer Hedonismus: Shoppen und Saufen ohne Maske!
Klar, über die Verwerflichkeit der Berliner „Reichstagsstürmer“ brauchen wir nicht zu reden und uns unseres Abscheus darob rituell versichern; doch soweit ich weiß, fand dieser widerliche Beset-
zungsversuch ebenso wie der vor der russischen Botschaft erst nach der großen Demo statt. Klar sollte man schwarz-weiß-rote Reichsfahnen nicht einfach ignorieren oder als normal hinnehmen, sondern sie rausschmeißen. Wenn das die Veranstalter aber nicht tun, soll ich dann nach Hause gehen und den Rechtsradikalen das Feld überlassen? Mich mutig mit ihnen prügeln? Ich frage mich, wieso diejenigen, die jetzt den Vorwurf erheben, diese fünfundzwanzigtausend „Corona-Skeptiker“ seien Nazis gefolgt, sich nicht aufgeschwungen haben zu einem inoffiziellen antifaschi-
stischen Ordnerdienst und die Sache selbst in die Hand genommen haben, die zu tun gewesen wäre. Den unorganisierten Teilnehmer*innen aber vorzuhalten, dass sie keine Straßenschlacht gegen Rechts eröffnet haben, finde ich ein bisschen unfair.
Und: In München habe ich nur drei Bayern-Rautenfahnen mit kleineren Schwarzrotgoldenen darunter gesehen (gewiss nicht gerade die Vorhut gesellschaftlichen Fortschritts), sowie einen Alten mit einer Umhängetafel „Die Regierung begeht Verrat am deutschen Volk“ (ganz offen-
sichtlich ein einsamer Nazi klassischer Provenienz); doch da waren die „Strahlenängstler*innen“ und die esoterisch Angehauchten deutlich zahlreicher zu sehen. Ein Tummelplatz für erkennbar Rechtsradikale war die Wiesn an diesem Wochenende jedenfalls nicht, eher ein Dorado der Dirndl-Trägerinnen und Lederhosen-Maxen, die sich tanzend um’s ausgefallene Oktoberfest barmten.
Soweit meine erste Einschätzung als leicht angewiderter Beobachter dieses Spektakels, das mehr ein Klimmzug gegen die Obrigkeit zu sein schien als ein faschistischer Skandal unter freiem Him-
mel. Tut mir leid, unsere Gegenkundgebung am Goetheplatz hätte eigentlich etwas anderes erwar-
ten lassen. Nochmal hingehen werde ich dennoch gewiss kein zweitesmal, weder zu der einen noch zur anderen Kundgebung; es wäre bloß Zeitverschwendung. Gegen eingebildete Gespenster an-
kämpfen ist nicht so meins. Mir wäre wesentlich wichtiger, eine linke Kritik am Krisenmanage-
ment der Regierenden zu entwickeln und diese öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren. Dann würden vielleicht weniger Menschen den verschwörerisch ihre gefälschten Blanko-Atteste zur Ver-
meidung der Maskenpflicht empfehlenden Bürger-Populisten hinterher rennen.
Gruß. Wob
Berufsdemonstrant Blaschka, Foto: https://www.muenchner-friedensbuendnis.de/
zugeschickt am 23.9.2020