Materialien 2012

Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus

Anfang November findet die Eröffnung der Ausstellung im Polizeipräsidium statt. Als Mitglied der Vorbereitungsgruppe für das Münchner NS-Dokumentations-Zentrum bekomme ich eine Einla-
dung und darf auch noch einen Freund mitnehmen. Ein weiteres Mitglied der Gruppe, Christoph, kommt ebenfalls. Er nimmt Julian mit.

Der Abend ist nasskalt. Ein eisiger Wind saust durch die Straßen. Franz und ich gehen durch das große Tor an der Ettstraße. Ich zeige die Einladung, deute auf Franz, meine Begleitung. Die junge Polizistin am Eingang lächelt mich an. Wir geben Schals und Mäntel ab. Fast alle Sitzplätze in diesem langen und breiten Gang sind noch frei.

Überall stehen Polizistinnen und Polizisten in ihren Ausgehuniformen herum. Kleine Gruppen unterhalten sich. Immer mehr Leute kommen, wir setzen uns in eine der hinteren Reihen. Chri-
stoph und Julian setzen sich zu uns. Zivilisten sind sonst nicht zu sehen. Dann geht es los. Es er-
klingt Haydens Concerto D-Dur „Per il Corno di Caccia“ für Horn, zwei Oboen und Streichorche-
ster. Franz dreht sich um und meint zu dem hinter ihm sitzenden Polizeioffizier: „Super Musik, passt irgendwie!“ Ich stoße ihm den Ellenbogen in die Seite und zische: „Halts Maul, Du Arsch, ich will hier keinen Stress!“ Der Macho grinst.

Die Musik verklingt, dünner Applaus. Jetzt spricht der Hausherr, begrüßt den Innenminister, den städtischen Kulturreferenten, die Gäste – meint er damit uns? – und die „lieben Kolleginnen und Kollegen“. Franz meint: „Ich bau mir jetzt einen.“ Er will provozieren. Ich funkle ihn an: „Ich finde das hier saugut, ich will das hier in Ruhe erleben, also mach jetzt gar nichts!“ Franz sackt ergeben in sich zusammen.

Nach dem Polizeipräsidenten, dessen Rede ebenfalls dünnen Applaus erntet, spricht der Innenmi-
nister. Sein Ton ist schnarrend, er verschluckt manchmal Silben. Auch er dankt allen und spricht dann davon, dass „unsere Demokratie gefährdet“ sei, dass viel zu wenig dagegen geschehe. Da müsse jeder sich aufraffen, da müsse jeder „an die Front“. Gefahr von links und rechts! Manche der Männer in ihren schmucken Uniformen drehen sich etwas zu Seite, diese Tirade ist ihnen unange-
nehm. Der Tonfall des Innenministers belehrt, tadelt und droht. Er ist erregt und schnaubt. Ich empfinde ihn als übergriffig und unverschämt, gerade auch gegenüber den anwesenden Polizistin-
nen und Polizisten. Ich schaue Franz und Christoph an und schüttle den Kopf.

Am Ende der Rede applaudieren die Uniformierten, wir vier sitzen da und rühren keine Hand. Musik ertönt, dann spricht kurz der Projektleiter der Ausstellungsgruppe. Der offizielle Teil ist zu Ende. Die Ausstellung kann besichtigt werden, das Buffet ist eröffnet. Wir vier Zivilisten stellen uns an einen der runden Tische. Getränke werden gereicht. Christoph fragt erstaunt: „Was war denn das?“ Julian will, so sieht es aus, gehen. Ich sage: „Dieser Innenminister ist ja fantastisch!“ Franz grinst und sagt: „Jetzt kann ich mir einen bauen.“ Ich: „Nein! Komm, wir gehen zum Buffet.“

Die Tische biegen sich. Dicke Scheiben Brot mit Wurst und Käse, Brezen, gute Hausmannskost. Franz sagt zu einer der Frauen hinter den Gerichten: „Super, das sieht super aus, als ich das letzte Mal bei Ihnen war, war das Angebot ganz anders.“ Die Frau schaut ihn mit großen Augen an. Wir nehmen uns zwei Stullen und gehen zu unserem Tisch zurück. Da steht inzwischen ein weiterer Zivilist, ein Mann im gedeckten Anzug. Ich stehe zwischen ihm und Franz. Mit einer leichten Kopf-
bewegung stellt er sich vor. Den gemurmelten Namen verstehe ich nicht.

Wir reden etwas über die Ausstellung, Christoph sagt: „Wir Zivilisten sind hier ja eine kleine Min-
derheit.“ Der Fremde meint: „Ich habe Sie beobachtet. Sie haben ja nach der Rede des Innenmi-
nisters nicht geklatscht.“ Ich: „Diese Rede war auch grob unhöflich, eine Zumutung, ich wundere mich, dass die Beamtinnen und Beamten geklatscht haben.“ „Nun, das war aus Höflichkeit!“ „Wie kann man Unhöflichkeit mit Höflichkeit beantworten?“

Franz fragt direkt: „Wer sind denn Sie?“ Der Fremde nach kurzer Pause: „Ich arbeite im Landes-
amt für Verfassungsschutz.“ Wir vier sind erst einmal sprachlos. Dann fragt Franz: „Kennen Sie mich?“ „Wenn ich Ihren Namen erfahre, vielleicht.“ Franz will auf der Stelle gehen, ich halte ihn fest. Der Staatsschützer meint: „Keine Sorge, ich arbeite seit einiger Zeit im Bereich ‚Wirtschafts-
kriminalität‘, das müsste Ihnen doch gefallen.“ Julian und Christoph haben sich inzwischen ver-
ständigt. Beide wollen gehen und verabschieden sich: „Man sieht sich!“ „Frau sieht sich auch!“ Der Staatsschützer sagt: „Ich will auch noch weiter, mit einige Kollegen reden.“ Er nickt mir zu und geht.

Franz trinkt Bier, ich Weißwein. Wir kauen auf unseren Stullen. Langsam leert sich der Raum. „Ich werde mir jetzt einen bauen.“ „Ok“, meine ich, „das Beste haben wir erlebt, jetzt ist der Abspann. Also nix wie weg!“

Mantel und Schal bei der Garderobe. Die junge Polizistin an der Türe lächelt mich an. Draußen pfeift ein nasskalter Wind.

Jessica di Rovereto


Das Buch zur Ausstellung: Joachim Schröder, Die Münchner Polizei und der Nationalsozialismus, Essen 2013.

Überraschung

Jahr: 2012
Bereich: Gedenken