Materialien 2020

Zum Tod von Hans Türk

Hella Schlumberger

Wir stehen hier erschüttert. So schnell, so unerwartet ist er weg, gestorben, hat uns allein gelassen. Wenden wir uns mit unseren Erinnerungen dem Lebenden zu.

Was für ein Mensch war eigentlich dieser Johann Türk? Dessen Tod so vielen Leuten so nahegeht?

Sein Verleger nannte ihn einen „Tausendsassa“ und „Hans Dampf in allen Gassen“, sein Buch über Nazi-Schrifttum und Verdrängung nach ’45 am Beispiel des Ex-OB-Vaters Karl Ude ein „Jahrhun-
dertbuch für die Deutschen“.

Hans, der am 5. April 1951 im österreichischen Spittal geboren wurde, war der mittlere von drei Buben; 1951, das Jahr, in dem Albert Schweitzer den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt und Marlene Dietrich ihr „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin“ trällerte. Mit 69 erlitt er im Coronajahr 2020 einen Schlaganfall, kam in ein Krankenhaus und starb dort.

Seine Tochter Rebecca erfuhr erst Tage später von seinem Tod.

Hans hatte mit ihrer Mutter Hilde Polz, einer Mode-Designerin, zwischen Ende der 80er bis Mitte der 90er zusammengelebt. Als er sie verließ, war Rebecca sechs. Nichtsdestotrotz hatten sie ein gutes Verhältnis. Hans sprach immer voll Stolz von seiner Tochter, der Vermögensberaterin, und von seinem Vater, dem Gewerkschaftssekretär. Er selber, Teil seiner Patchworkfamily, hatte ver-
schiedene Berufe: vom Schützen im österreichischen Heer zum Journalisten, Galeristen, Schrift-
steller.

Tochter Rebecca sagt über ihren Vater: „Er war ein Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, ein Ge-
nießer, was Essen und Gespräche betraf, ein Frauen-Liebhaber und Freigeist, ein Phantast und sturer Trotzkopf, der austeilen konnte, aber nicht einstecken wollte, trotzdem fürsorglich und de-
tailverliebt, ganz vernarrt in das Eichhörnchen, das er mit Nüssen verwöhnte, vor allem aber eins: ein leidenschaftlicher Antifaschist, der kaum eine Demo zum Thema ausließ und unglaublich viele Leute kannte.“

Sandro, mit dem Hans heuer wieder nach Italien in dessen Wohnung in Rom fahren wollte, hatte ihn vor über zehn Jahren im Kino „Maxim“ kennengelernt. Seither hatten sie einen engen Kontakt. Er erzählt, wen Hans alles finanziell und digital unterstützte. „Er hat auch mich unterstützt, Hans war mein Stützpunkt.“

Mike Winterstein kannte Hans schon an die zwanzig Jahre. Sie hatten sich bei der Arbeitslosen-Seelsorge der Erzdiözese München-Freising kennengelernt. Weil Hans nurmehr Radl fuhr, durfte Mike ihn mit seinem Auto 2018 nach Spittal in Österreich und nach Rom kutschieren. Heuer war eine weitere Romreise geplant.

„Er war“, beschreibt er ihn, „das Gegenteil eines Langweilers. Er war sozial engagiert, parteilos, kritisch, exzentrisch, konsequent und vor allem eins: links. Solidarität war ein wichtiger Begriff für ihn. Für Schwache setzte er sich ein, Wichtigtuern drohte er mit Briefen an die Regierung, einst-
weiligen Verfügungen und Prozessen. Er wollte eben immer, dass die Dinge so laufen sollten, wie er es sich vorstellte.

Sich selbst gegenüber war er kritiklos, hat verbissen an seiner Meinung festgehalten, hat keinen richtig gelten lassen, der nicht auf seiner linie lag. Er war der Meinung, das kapitalistische System sollte abgeschafft und durch ein sozialistisches ersetzt werden. Beispiel dafür war ihm Chile unter Allende. Weil die USA sämtliche sozialistischen und kommunistischen Bewegungen auszuschalten versuchten, hasste er Amerika.

Kritisch stand er auch zur Einstellung von Gewerkschaftsfunktionären der Arbeiterklasse gegen-
über. Sie waren für ihn oft Betrüger, die ihre Mitglieder ausbeuteten. Hans war immer er selber, er hatte nichts Aufgesetztes, so mochte ich ihn.“

Für Freundin Monika, die wie er eine Tochter hat, Melanie, waren die Wochenenden reserviert. „Ich war für Hans der Ruhepol. In meinem Haus und Garten in der Winzererstraße konnte er sich so richtig erholen. Er als Frischluftfanatiker genoss die Terrasse, wo ich ihn gerne massierte. Es war für ihn eine Art Reha.

Er hat mich vorn und hinten bekocht. Hans war und blieb aber ein Alt-Linker, der nie seine Über-
zeugung revidiert hat. Ich weiß, wie streitbar er war, deshalb waren bei mir politische Themen ta-
bu. Ansonsten war er sehr hilfsbereit, sozial, Neuem immer aufgeschlossen, vielseitig talentiert, ja, er konnte auch höflich sein und bescheiden. Experimentierfreudig waren wir beide. Er fühlte sich hier zwischen Meisen, Rotkehlchen, Spechten. Krähen, Spatzen, Eichelhähern und Igeln so richtig pudelwohl. Außerdem gab es ja mich noch.“

Das waren die Stimmen der Leute, die ihm am nächsten standen.

Ich habe Hans vor Jahren bei einer meiner Führungen zum Thema „Georg Elser“ kennengelernt. Für ihn gab es ja nur zwei echte Widerstandskämpfer: den Elser und seinen Vater. Das verband uns. Dem „20. Juli“ und der „Weißen Rose“ warf er vor, zunächst auf Hitler hereingefallen zu sein, im Gegensatz zu Elser.

Als wir bei einer unserer Diskussionen zum Thema seines Buches „Nazischriften und die Verdrän-
gung nach 1945“ nicht ganz einer Meinung waren, kehrte er seine strenge Seite heraus: Er brach den Kontakt ab, wohl ganze zwei Jahre lang. Danach trafen wir uns zufällig bei einer Elser-Preis-
verleihung wieder (dem Preis, den ich ins Leben gerufen hatte) und er benahm sich so, als hätte es zwischen uns nichts gegeben. Wir machten einfach da weiter, wo wir aufgehört hatten; mindestens zwei Telefonate am Tag, gelegentliche Treffen bei Essen und Trinken, wo Zeitungsausschnitte und Bücher getauscht wurden.

Er fuhr auch bei der Elser-Spurensuche mit. Man wusste schließlich, was den anderen interessier-
te. Von seinem übrigen Leben mit Freunden, Freundinnen und Verwandten erfuhr ich so gut wie nichts. Das hielt er schön getrennt. Das waren seine Parallel-Welten. Er erwähnte nur kurz, dass er einmal eine Galerie betrieben und im Pressehaus gearbeitet hatte. Ansonsten ging es ihm nur um sein Buch, an dem er bereits zehn Jahre arbeitete.

Ich hatte Karl Ude und seine Frau in den ersten Jahren der Seidlvilla dort öfter getroffen. Er war ein charmanter Typ, wir plauderten über dieses und jenes. Nie kam mir der Verdacht, er hätte es im III. Reich mit den Nazis getrieben und später nichts davon wissen wollen. Das hörte Hans nicht so gerne.

Begeistert war er jedenfalls von der Idee, gegen kriminelle Mitarbeiter an meiner Elser-App einen Prozess anzustrengen und für die App ein Crowdfunding zu starten. Übrigens: Wer einen Sponsor und/oder einen Programmierer kennt, mit dem ich die App zuende bringen könnte, soll es mir bitte sagen. In solchen Dingen war er ganz der engagierte Freund und Kumpel, nannte sich gerne „ehrenamtlicher Richter“, war wohl sicher Schöffe, kannte sich jedenfalls juristisch gut aus. Besser als wir alle zusammen.

Um seinen Körper, seine Gesundheit kümmerte er sich kaum, Zähne und Körperumfang zeugten davon, auf Erstausgaben von Büchern war er fixiert, scheute keine Mühe, sie zu bekommen.

Er war ein Phänomen, hinterlässt eine große Leere und uns, seine Freunde, ratlos zurück.


Hans Türk, rechts, im Gespräch mit Sigi Daiber vom Maxim beim Filmfest 2011,
Foto: Felicitas Hübner

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Johann Türk

Paul B. Kleiser

Mit großer Betroffenheit habe ich vom plötzlichen und völlig unerwarteten Tod von Johann Türk erfahren. Aus der Ferne kannte ich den Journalisten Johann Türk schon lange, doch erst in den letzten drei Jahren bekam ich intensiveren Kontakt mit ihm.

Das hatte vor allem mit Georg Elser zu tun, insbesondere mit der von Hella Schlumberger erarbei-
teten App und den zahlreichen Schwierigkeiten, sie zu einem guten Ende – also in korrekter Form – zum Laufen zu bringen. Da es zu vielen – vor allem technischen – Problemen kam, zu denen ein äußerst eigenwilliger und selbstvergessener EDV-Mann erheblich beigetragen hat, haben wir häu-
fig auch inhaltlich über Elser diskutiert. Und natürlich besprochen, wie die Sache weitergeführt und ggf. auch weitere Geldmittel aufgetrieben werden könnten. Ich kannte die Person Elser schon als Jugendlicher, weil mein Großvater mütterlicherseits, ein Schwarzwälder Uhrmacher und Nazi-
gegner, ihn sehr schätzte; er äußerte immer wieder, Elser hätte statt des Weges über Konstanz doch einfach in Stühlingen (Oberrhein) über die Friedhofsmauer springen sollen, um von dort in die Schweiz zu gelangen. Das Attentat im Bürgerbräu war in unserer Familie gut bekannt.

Zu Türks Lebensthema wurde die Aufarbeitung der Verstrickungen von Intellektuellen mit dem Nazi-Regime und der Kampf gegen das jahrzehntelange Verschweigen und Verdrängen. Dabei konnten seine Urteile recht rigoros und unerbittlich sein. Mit einem gewissen Recht traf das auf Graf Stauffenberg und den 20. Juli 1944 zu, der ja in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte als DER Widerständler dargestellt und gefeiert wurde. Dadurch entlasteten sich auch Parteigänger des Naziregimes. An ihm ließ er kein gutes Haar. Und natürlich engagierte er sich häufig gegen die ver-
schiedenen Ansätze und Aufmärsche des Neofaschismus in München, gerade auch vor dem Hin-
tergrund des Oktoberfestattentates.

Hans erzählte mir häufiger von seinen Arbeiten an der Kart Ude-Biografie, die sich wohl minde-
stens fünf Jahre hinzogen; ich hatte den Eindruck, dass ihm die Zeit davonlief, weil er in der Stabi immer neue Sachen fand und immer noch weitersuchte. (Ude dürfte ja mindestens 1.200 Artikel geschrieben haben!) Er schickte mir einmal einen kaum bekannten Artikel von Oskar Maria Graf über die rechtsradikalen und esoterischen Ansätze im München der frühen 1920er Jahre. Ich hatte gerade mein Buch über Bayern, den „Heimathorst“ veröffentlicht, was er mehrfach sehr lobte. Nur den Titel fand er unpassend bzw. wollte er geändert haben.

Er fragte mich vor einigen Monaten, ob ich schon von der Überlinger Literatenkonferenz 1956 ge-
hört hatte und schrieb dazu auch einen Brief an Martin Walser. (Über eine Antwort ist mir nichts bekannt.) Daran soll auch Karl Ude teilgenommen haben. Ich hatte keine genaueren Kenntnisse über dieses Ereignis, außer dass wohl viele Autoren teilnahmen, die sich im Dritten Reich nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Ich bin mir nicht sicher, ob auch der Österreicher Heimito von Doderer teilgenommen hat; über diesen reaktionären Heimatideologen und Antisemiten sprach er (auch als Österreicher) in heiligem Zorn. Eine Freundin von mir, Alexandra Kleinlechner, hat über diesen Autor promoviert. Er kannte das Buch und fand es wohl sehr gelungen.

Ein weiteres ihn beschäftigendes Thema war der Kampf der Palästinenser gegen Vertreibung und für ihre Rechte. Er sah den Zusammenhang zwischen ihrer Tragödie und den Schandtaten des Dritten Reichs.

Ich werde Hans ein ehrendes Andenken bewahren!


Hans Türk beim Filmfest 2012, Foto: Felicitas Hübner

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In Erinnerung an Johann Türk

Günther Gerstenberg

Vor etwa 20 Jahren bekam ich den bezahlten Job, Texte des Vaters des damaligen Oberbürgermei-
sters, die er nach 1945 verfasst hat, als Buch herauszugeben. Das tat ich, aber mich interessierte auch, ob dieser Karl Ude vor 1945 schon publiziert hat. Da fand ich einige Texte, die ich als sehr problematisch empfand. Dies habe ich in dem Buch in einer Fußnote vermerkt. Als mich Hans Türk fragte, ob ich ihm meine Unterlagen geben könne, habe ich sie ihm selbstverständlich über-
lassen. Ich konnte damals nicht ahnen, dass für Hans daraus eine Profession wurde. Wir waren uns einig, dass München, diese auf Hochglanz polierte Stadt, nicht wenige Leichen im Keller hat.

Ich vermutete damals, dass die sogenannte Schwabinger Bohème der frühen Bundesrepublik, also der Tukankreis und die Seerose, alles andere als schon immer linksliberal und tendenziell antifa-
schistisch waren. Diese Schwabinger Bohème hat es glänzend verstanden, über die Zeit vor 1945 einen Mantel des Schweigens zu breiten. Die große Lüge hieß immer „München leuchtet“, ein falsch zitiertes und auch falsch verstandenes Zitat von Thomas Mann, das diese gespreizten Gok-
kel, die sich mit fremden Federn schmückten, mantramäßig runterleierten. Schwabing war eine verklärte Illusion, mit der gut Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden konnte.

Und so stürzte sich Hans in die Recherche. Ich vermute, Unmengen von Dokumenten sind noch da. Vieles ist in seinem Computer. Ich sagte zu ihm, wer an Tabus rührt – das ist seit Tausenden von Jahren so – der wird ausgegrenzt, isoliert, als verrückt erklärt, neutralisiert. Das war Hans egal.

An einige Episoden erinnere ich mich gerne, zwei will ich kurz andeuten. Bei einer Veranstaltung im Gewerkschaftshaus sprach einmal eine sozialdemokratische Stadträtin. Sinngemäß sagte sie, wir machen Politik für die Bürger, München ist konservativ, wir dürfen nicht konservative Werte ignorieren, wir machen Politik für die Bürger. Da sprang Hans auf und rief: „Genau das ist der Grund, warum Ihr nicht mehr gewählt werdet, weil Ihr nichts mehr zu sagen habt, weil Ihr nur noch langweilig seid. Ihr habt nicht einen Funken Geist!“ Da machte sich im Saal Unruhe breit und es kam zu heftigen Wortwechseln.

Im Institut für Zeitgeschichte sprach einmal ein weithin bekannter Professor über die Vorausset-
zungen und Ursachen des Nationalsozialismus und meinte, der rechtsextreme Aufschwung der Zwanziger Jahre habe seine Wurzeln in der Angst vor kommunistischen Putschen. Letztendlich seien die Linken der Grund für das Erstarken der Nazis. Da sprang Hans auf und rief: „Das ist die uralte Hufeisentheorie. Schon längst überholt! Sie relativieren die Nazis und sind immer noch ein antikommunistischer Scharfmacher. Inzwischen wissen wir längst, dass der rechtsextreme Impuls aus der Mitte der Gesellschaft kommt.“ Da machte sich im Saal Unruhe breit und der Professor war für kurze Zeit konsterniert, weil er das von seinen Studenten nicht kannte. Aber er fing sich wieder und begann scheinbar objektiv, verschiedene Faschismustheorien zu referieren. Ein Teilnehmer der Veranstaltung ist hinterher zum Hans gegangen und hat gesagt: „Gut, dass Sie hier widerspro-
chen haben.“

Ja, so war der Hans auch. Manchmal dachte ich, dass er sich auch eine eigene Welt schafft. Vor etwa 25 Jahren nahm er mich einmal auf einen Ball im Hotel „Vierjahreszeiten“ mit. Er meinte, „das musst Du mal gesehen haben“. Theoretisch wusste ich von diesen Welten. Tatsächlich war ich fasziniert und erschüttert zugleich. Hans trank Champagner, sprach mit allen möglichen Leuten, mit Politikern, bekannten Größen aus Film, Funk und Fernsehen, stellte mich irgendwelchen Leu-
ten vor, die jeder kannte, nur ich nicht. Während ich bewegungslos rumstand, bewegte er sich wie ein Fisch im Wasser.

Ich fragte mich, was macht der hier? Das Ganze war fast wie für ihn oder von ihm gemacht. Es war alles real und zugleich seine Schöpfung. Es ist erklärbar, sich in andere Welten zu beamen, wenn Erfolge ausbleiben und Enttäuschung und Resignation sich breit machen. Er schuf sich nicht nur seine eigenen Welt, die wirkliche Welt hat er sich auch manchmal zurechtgebogen. Das habe ich gut verstanden. Ich mach das auch manchmal. Freilich ganz anders.

Pfiat Di’, Hans!

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Das letzte Foto von Hans, als er am Samstagmittag des 13. Juni auf dem Rotkreuzplatz an der Mahnwache gegen die Annexion großer Teile palästinensischen Territoriums durch den Staat Israel teilnimmt, Foto: Hella Schlumberger

Überraschung

Jahr: 2020
Bereich: Alternative Szene