Materialien 1974
Schatten an der Wand
… D. war der D., den der Schriftsteller Chotjewitz in einem Haschischreport in „konkret“ als seinen Gewährsmann vorgestellt hatte. Am 50. Jahrestag der Oktoberrevolution hatte D. – laut Chotjewitz – einen Fünfblattjoint mit Hammer-und-Sichel-Emblem gerollt. Ich habe D. nie gefragt, ob das stimmte. Schriftsteller leben ja von ihrer Phantasie. Andererseits war D. auch ein Schriftsteller, ob-
wohl er nie ein Buch veröffentlicht hat. Vielleicht verstand er zu viel von Literatur. D. wurde um
die gleiche Zeit auch in einem München-Report in der „International Times“ erwähnt, als Under-
groundfilmer. Der Titel seines Films hatte irgend etwas mit Preludin zu tun, dem Schnellmacher, den wir alle damals sehr mochten. Es war eine schnelle Zeit, unvorstellbar schnell für heute, wo alles nur noch hektisch und hastig und verkrampft ist, aber nicht mehr schnell. D. hat mir gegen-
über den Film nie erwähnt. Ich habe ihn auch nie danach gefragt. Projekte gab es jeden Tag. In der Zeit, in der ich ihn am besten kannte, lag das alles auch schon weit zurück, vielleicht weiter als heu-
te. Heute ist vorgestern die Zeit, als wir jung waren. Gestern war vorgestern die Zeit, in der wir ver-
loren hatten.
D. lebte mit Frau und Tochter und Hund und Katze im Herzog-Haus, einem einstöckigen Häus-
chen am Anfang der Herzogstraße, mit Holzläden an den Fenstern und einem Gärtchen, mitten in Schwabing, wo es laut ist, ein Münchner Idyll. Damals sah ich ihn immer nur flüchtig, ich war im-
mer auf Durchreise, fuhr dem Junk nach, dem Deal, der Connection. Das Herzog-Haus war die klassische Anlaufstation aller Durchreisenden, ein ganzes Stockwerk besiedelt von Dealern, Auto-
dieben, Kunstmalern, Junkies, Bombenlegern, Bücherschreibern, Philosophiestudentinnen, Taxi-
fahrern, Jazzfanatikern, Modellen, Alkoholikern, Imams und Gläubigen auf Achse. Ab und zu ver-
reiste auch D., zum Beispiel nach Indien, angetan mit seiner alten Lammfellweste und bewaffnet mit ein paar Reiseschecks und einem Presseausweis, er brauchte aber kein Jahr dafür, sondern war nach fünf Tagen schon wieder da mit einem großen Haschischklumpen, vor dem er dann lange me-
ditierte. Das große Geld brachten die großen Klumpen nie. D. war kein Dealer. Alles, was er feil-
hielt, war sein Leben.
Er stammte aus dem Norden, aus Pinneberg, und war hochgewachsen und kräftig, aber nicht blond, sondern dunkel. Wenn er blond gewesen wäre, hätte er das Leben vielleicht besser kalku-
liert, so passte er zu den Gypsies, dem fahrenden Volk, einer aus dem Nachtasyl, ein Störtebeker aus 1001 Nacht, ein Beatnik aus Pinneberg. Aber deutsche Beatniks hatten es mit deutschen Eltern zu tun, mit deutschen Nazis, mit deutschen Autobahnen, mit deutschen Dichtern. Wenn wir nach El Paso aufbrachen, landeten wir unweigerlich in Dachau, und wenn wir unsere Kifferträume zu Papier brachten, dann war Walter Benjamin schon dort gewesen. Dennoch, für eine kurze Zeit, ein Jahr vielleicht, war D. der Phänotyp unserer Generation. Als in Stammheim der Putschversuch di-
lettierender Politbürokandidaten liquidiert wurde, hatten Leute wie er ihre Pfänder aus dem Leih-
haus der deutschen Träume längst für eine Flasche Vollbier versetzt. So deutsch ist diese BRD alle-
mal, dass anarchischer Individualismus nur Ernst Jünger und als Hit in Programmkinos erlaubt ist. Das heißt heute dann „Die Reihe ,Kleine Fluchten’, Spätprogramm, 22.45 Uhr“.
Als ich einige Jahre später nach München zog, sah ich D. häufiger, fast jeden Tag. Er wohnte nun mit Frau und Tochter und Hund und Katze und Schwiegermutter an der Peripherie der Stadt, Häuschen mit Garten in einer Gegend für Leute, die in Häuschen mit Garten passen. D. passte nicht in Häuschen mit Garten, er passte aber auch nicht mehr ins Herzog-Haus – da war jetzt eine Jeans-Boutique –, ins schicke Schwabing, in diese verlangsamte Zeit. Was uns zusammensitzen ließ, war mein verrückter Einfall, wir beide gäben ein gutes Team ab, um den deutschen Hörspiel-
markt zu beliefern. Wir schafften auch binnen einer Woche in dem Garten an der Peripherie, um-
geben von summenden Bienen in Apfelbäumen und Bierflaschen, ein Hörspiel, wir nannten es „Die von der Reservebank oder Wenn wir drankommen, ist das Spiel schon längst verloren“, der Titel gibt den Inhalt ja wohl wieder, auf ironischen Küchenrealismus verstanden wir uns. Es war der Sommer, als Brandt stürzte und Nixon aus dem Amt gejagt wurde, und wir zum erstenmal seit den fünfziger Jahren eine Million Arbeitslose hatten, als Helmut Schmidt das westliche Krisenma-
nagement übernahm und der Popper Scheel den Pastor Heinemann als Bundespräsident ablöste, als Franz Beckenbauer das Heft des Handelns ergriff und die Bundesrepublik zum zweitenmal Fußballweltmeister wurde. D. und ich waren jetzt dreißig oder darüber, wir spürten, dass wir unse-
re Zähne nun auch in ein Stück des Kuchens schlagen und den dann auch essen müssten. Als das Laub fiel, hatten wir das Hörspiel immer noch nicht verkauft. Ich hauste in einer Wohnung im al-
ten Franzosenviertel, auf das die Spekulanten schon ihr Auge richteten, mit einer Matratze, einer Tischtennisplatte als Schreibtisch, zwei Sperrmüllsesseln und einer undichten Gasheizung, und D. richtete sich das andere Zimmer ein, indem er einen Schlafsack auf eine Matratze legte und einen Haufen Krimis daneben stapelte. Wir dachten über neue Hörspiele nach, dazu tranken wir Unmen-
gen von Rumverschnitt mit heißem Wasser und viel Zucker, der unser Hirn vernebelte, wogegen niemand einen Einwand erhob. Es war recht still um uns.
D. hatte allerdings immer häufiger Krach zuhause, das Trinken brachte Aggressionen raus, die so tief unter der Oberfläche saßen, dass der Vorgang höllisch schmerzte. Seine Frau war Lehrerin, D. verdiente so gut wie nichts, aber was vor einigen Jahren nichts gemacht hatte, jetzt machte es was, es machte einen Unterschied. Vorbei die Zeit der schnellen Deals, der Undergroundfilme, der kif-
fenden „konkret“-Autoren, der durchreisenden Modelle, der freigebigen Autodiebe, der schlauen Imams. Die Party war aus. Was war eigentlich los mit unserem verdammten Zeitalter? Unser ver-
dammtes Zeitalter war ein verdammtes Übergangszeitalter, ein Ikea-Zeitalter, wo jetzt jeder mög-
lichst rasch noch seine Einrichtung holte, damit er sich noch möglichst billig zu Hause einrichte-
te, bevor er auch das nicht mehr bezahlen konnte. Oder bevor er Erfolg hatte oder eine Frau wurde oder in den Staatsdienst eintrat, damit er pensionsberechtigt wurde, bevor der Computer ihn ab-
schaffte. Oder bevor die Bombe fiel. Vor Computern und Bomben hatte D. nicht die mindeste Angst. Sowenig wie vor dem Chaos. Wenn überhaupt, hatte er Angst vor dem Stillstand. Und was anstand, schien eiserner Stillstand zu sein. Stillstand in Beton. Lähmung in Aspik.
Die Lage im Franzosenviertel wurde für mich unhaltbar. Ich retirierte vorübergehend an den Rhein, eines Tages rief D.s Frau an. D. war nach einem Streit im Keller verschwunden und hatte Schluss gemacht, diesmal war er zu schnell für sie gewesen. Er hatte oft mit den verschiedenen Arten des Letzten Adieus gespielt, nun standen wir etwas fassungslos in der Friedhofshalle, La-
zarus war nicht aus Deutschland.,Als die schockierten Eltern mit der Urne schon in Pinneberg wa-
ren, hockten manche von uns noch immer in den Kneipen der Stadt, irgendwann kamen auch sie zu sich im Schnittpunkt von Autobahnzubringern und Grossomärkten, Einflugschneisen und Ra-
darfallen, die Doors im Ohr oder Hans Albers, mit dem Geschmack von Rumverschnitt und Vogel-
futter und Babywindeln und Baldriantropfen auf der Zunge und dem Schatten an der Wand, der aussah wie eine Landkarte der Wirklichkeit. Bei ihr sind sie dann geblieben …
Jörg Fauser, Erzählungen II. Gesamtausgabe Bd. IV, Hamburg 1990, 325 ff.