Materialien 1976

BLATT meint: Ganz schön in die Hosen ...

… ging der Versuch der Blattredaktion, alle Mützchen der Stadtpolizei zu beschlagnahmen. Diese kam uns zuvor und beschlagnahmte einen Tag nach Erscheinen des 68. BLATT.

Wie trug sich solches zu?Am 15.4.um 14.30 h betraten fünf unscheinbare Herren die Redaktion und gaben sich überflüssigerweise sogleich als Kriminalbeamte zu erkennen. Sie hatten ein An-
liegen bei sich und das aber lautete: Sofortige Herausgabe des 68. Blattes, weil sonst wird die Re-
daktion durchsucht. So stands auch auf einem richterlichen Beschluss. Wir könnten aber auch die beanstandete Seite 38 herausreißen, von wegen Verhältnismäßigkeit der Mittel, dann dürften wir den Rest behalten. Wir blieben sprachlos.

Also suchten die Herren sich alles schön selbst zusammen und fanden von 9.200 Exemplaren im-
merhin noch 298, die ihnen unauffällig folgen mussten.

Zur gleichen Zeit machten sich andere Polizisten auf, einer unreifen Öffentlichkeit das Blatt wieder aus den Fingern zu reißen. Jeder Kiosk, jede Kneipe, jeder Laden, dem das Blatt zuzutrauen war, wurde angemacht und zur Herausgabe gezwungen. Auch die Libresso-Buchhandlung sah der Gen-
darmerie ganz so aus, als ob. Gerade diese Buchhandlung verkauft aber das Blatt lieber nicht, und hatte erhebliche Mühe, die Schutzleute davon zu überzeugen.

Wieso dies alles? Auf Seite 38 war mitten im Veranstaltungskalender die Zeichnung eines Men-
schen zu sehen, der angeblich so etwa wie einen Molotov-Cocktail werfen soll. Dies Bildnis – aus der französischen Tageszeitung Liberation ausgeschnitten, nebst den Wörtchen „right on“ – stellt angeblich in Wirklichkeit eine „Aufforderung zur Begehung strafbarer Handlungen“ dar. Naja.

Es geht aber weiter. Am 28.4., wieder um 14.30 h, betrat Herr Staatsanwalt Dr. Gehrig die Redakti-
on. Er hatte 4 Kriminaler und einen kleinen Staatsanwalt namens Krapf dabei. Dr. Gehrig, bei des-
sen Kinn offensichtlich erhöhte Fluchtgefahr besteht, hatte keinen Durchsuchungsbefehl. Er gab uns aber die Versicherung, dass „Gefahr im Verzuge“ sei (den Eindruck gewinnen wir auch lang-
sam).

Dem Auge des Gesetzes blieb auch diesmal nichts verborgen: 44 vollständige Blätter wurden ent-
deckt und obendrein 328 Flugblätter über die erste Beschlagnahmeaktion, was besonders Herrn Krapf kleine spitze Schreie des Entzückens entlockte. Überhaupt verlief die ganze Durchsuchung in durchaus entspannter Atmosphäre und wurde durch ein besonders schönes Erlebnis gekrönt: Wir alle durften unter Polizei- und Staatsaufsicht unser Blatt selbst zensieren und die schreckliche Seite herausreißen.

Bleibt uns nur, der Executive für ihren Mut und ihre Tatkraft zu danken, deren rasches Eingreifen eine schwere Katastrophe in letzter Sekunde verhindert hat.


Blatt. Stadtzeitung für München 69 vom 7. Mai 1976, 4.

Überraschung

Jahr: 1976
Bereich: Bürgerrechte