Materialien 1982

Eine Vorgeschichte oder Es geht voran

»Ich bin auch so einer, vor denen sie mich gewarnt haben.«

Ich komme zurück …, der Winter macht mich krank.
Ich möchte hier nicht mehr leben und überhaupt – Servus Bayern!
Weiter! – Es geht weiter – bis zum Sommer aufs Land, Bauernhof in Stadtnähe, Fachwerk, weites Land.
Oder gleich ganz weg?
Ist Deutschland noch zu retten …, sind wir hier noch zu retten? Oder dort? – Toscana, Pyrenäen …
Oder ist der Endspurt schon weltweit und endgültig?
Geht’s nur noch drum, wer diese Suppe auslöffelt oder in die Luft sprengt?
Jedenfalls bin ich für meine nächsten Schritte allein verantwortlich.
Pendler zwischen hier und dort.
Jobben und Musikkeller, Großstadtmief und Isarauen, und … oder, Punkt Komma Punkt.
Wohin geht’s überhaupt? – Was kann ich tun?

Die Vorgeschichte des 4. April ‘81 ist die Geschichte des wachsenden Widerstands der letzten Jah-
re gegen die Zerstörung von Wohn- und Lebensraum, gegen eine umfassende Bedrohung unserer Lebensgrundlagen durch die Ausbeutung der Geldhaie.

Ob es die Öko-/AKW-Bewegung war, die »neue Jugendrevolte«, Züricher Krawalle oder Berliner Instandbesetzungen, Friedensbewegung oder Punx, überall zeigte sich Unzufriedenheit, Wut oder das »No Future«-Gefühl – wieder auf der Straße.

Frühjahr ’80

Eine Kommandoeinheit versprengter Telefonverbindungen hat in München die Kirche am Send-
lingertorplatz besetzt.

Die Punker und Penner fordern den Erhalt alter Häuser, um Kommunen und Treffpunkte einzu-
richten. Die Jugendlichen und Hippies protestieren gegen die Zusammenarbeit von Behörden und Spekulanten bei der Zerstörung von billigem Wohnraum.

Sonntag nachts ist die Ruhe am tiefsten, spür ich ganz deutlich – mich, – die nicht geweinten Trä-
nen – kalte Trauer und ohnmächtige Wut.
Gerade das, was ich nicht ausgelebt habe.
Aber leben tu ich – wie eine Achterbahn – zwischen oben und unten – und dann Stillstand, die große Leere oder die Freude auf das, was kommt … die Musik, die wir machen, ist ein Ausdruck meiner Hoffnung, dass wir die Mauern aufbrechen können … »break on through …«
Ich fühl mich allein jetzt.

Was ist mit meiner Liebe?
Du bist so weit weg –
ich bin so weit weg.
Ich kann dich nur lieben,
wenn ich mich lieben kann.
Oder ist es umgekehrt?
Was heißt Liebe?
Sagen können: »Ich brauch dich«, und
»Ich möcht mich nicht verlieren«.
Oder doch:
Verlieren und wiederfinden.

Montag
Heute – ein langer Tag:
Morgens lugt die Sonne über die Dächer kurz zu mir herein und verschwindet hinter grauen Wol-
ken.
Arbeitsamt – Sammelbecken – Wartesaal ohne Fenster – grelle, feuerrote Hinweisschilder »Rau-
chen verboten«, »Es wird eingesammelt«, »Es wird aufgerufen«, ein Blinklicht zeigt die richtige Tür, der Beamte zeigt Dir Deine Nummer und sagt: »Das ist wichtig!« …
Wohnungsamt – überall Schlangen von Menschen – warten – Formulare ausfüllen – Nachweisen und Bescheinigungen nachrennen, wiederkommen, warten, überprüft werden, bearbeitet werden und und das Wichtigste: die Nummer – Du kannst gehen.

Die Besetzer der Sendlinger Kirche sind für den Chef vom Wohnungsamt nicht verhandlungs-
fähig, weil keine Rädelsführer auszumachen sind. Keine politische Organisation bekennt sich zu dem Anschlag, trotz zahlreicher Sympathiekundgebungen. Die Wohnungslosen sollen nach dem Sonntagsgottesdienst in ehemaligen Notunterkünften, die zum Abriss freigegeben worden sind, untergebracht werden.

Nach den Jahren der großen Terroristenjagd, dem deutschen Herbst mit Stammheim und Mogadi-
schu; nach dem großen Schweigen und nach der Einschüchterung oder Kriminalisierung vieler AKW-Gegner, war das jetzt für viele ein Signal, Zurückgezogenheit und Ohnmacht wieder zu überwinden.

Wir kommen gerade noch rechtzeitig mit der Kamera, um den Bagger mit der Stahlkugel anzu-
halten. Während der Mittagspause spielen wir in den Trümmern Nachkriegszeit. Der Bürger-
bräukeller hat am meisten ausgehalten. Der Sanierungsmanager von Coca Cola/Löwenbräu weigert sich, für ein Gruppenbild Pose zu stehen; davor die halbkaputte Kapelle, dazwischen zerstörte Wohnhäuser und ER, dahinter die Colafabrik – das Fließband läuft. Oder in die andere Richtung: der Bürgerbräukeller als letzte Festung vor dem heranwalzenden Betonklotz Kultur-
palast & Löwenbräu; und auf dem alten Schornstein (der kommt erst Morgen dran) sitzt ER und dirigiert die Neunte von Beethoven.

Die Küche dampft und die »Doors« reiten auf dem Sturm; die Fenster beschlagen und die Dächer schwimmen im Regen.

Es gibt chinesischen Eierreis mit Zwiebeln und den besten Einfällen des Tages. Z.B. Lauchgemüse mit Tomaten in Sahnesauce oder eine alte Villa mit Garten und Swimmingpool für 1.800.– DM monatlich. Außerdem steht noch eine Hausbesetzung auf der Speisekarte.

»Insalata mista …«, die Zweimännerwohnküche füllt sich mit triefenden Gestalten, Parkas, Mäntel, Mützen und Schals. Türmen sich zu Bergen und bringen klapprige Stühle zum Wanken.

– Mitten in der Planung eines kombinierten Übungsraums mit Studio und Sitzecke klingelt das Te-
lefon – Nein, die berühmte Telefonkette klopft lautstark an die Tür: »In der Blumenstraße ist ein Haus besetzt – kommt schnell – heut Abend gibts ein Fest – bringt Essen und Trinken mit, Decken und Instrumente, Farben und Papier …!«

»Die Befürchtung, dass durch Hausbesetzungen keins unserer Luftschlösser wahr werden würde, erwies sich jedoch als richtig. Dennoch waren alle Versuche, neue Lebensräume zu erobern, eine Ermutigung für viele, dem stärker werdenden Anpassungsdruck etwas entgegenzusetzen.«

»Hey – wollt ihr nicht mitkommen?« – »Nee, ich hab heut keinen Bock, noch was auf die Nase zu kriegen!« – »Ach Mensch, wir könnten doch auf dem Fest noch etwas Musik machen …« – »Damit ich mir meine Kongs kurz und klein schlagen lasse? Nee, heut nicht mehr!«

… Ca. 80 Leute werden zu Geldstrafen verurteilt, fünf Tage U-Haft werden gütig verrechnet. 16 Stunden war das Haus besetzt, bis 400 Bullen um zwei Uhr morgens das »Gelände sicherten«, um jeden Besetzer einzeln vortreten zu lassen. Bis zur Rushhour war der Spuk vorbei …

hin und her taumeln
zwischen gerissenen widersprüchen
aufreiben
zerreißen lassen
ohne wahl auswege suchen
die hauptstraße suchen
das weite suchen
aussicht ohne orientierung
zeiten ohne entscheidungen
handeln oder draufgehen
kopflos am grat wandern
bauch voller zweifel tragen
bloß nicht stehen bleiben!
abhauen oder ins getümmel stürzen

prozesse werden besucht und wir besuchen uns. feste werden gefeiert und wir genießen den som-
mer. wir schwelgen in liebe oder wir suchen sie. beziehungen gehen weg wie warme semmeln und ganze wg‘s tauschen ihre besatzungen.

dann werden prozesse nur noch von »randgruppenfamilien« besucht.

gerichtsvollzieher oder erzwingungshaft werden in spätestens einem jahr vor unserer tür stehen. das milbenzentrum ist jetzt die neue heimat der punks. waggie meint in der fernsehsendung »sogst, wosd mogst«: »wenn des so weida gäht, werds amoi sauba rausch’n im kartong!« – ein starker auftritt und hoffnungen werden geschürt.

Der Herbst beginnt mit dem alle vier Jahre stattfindenden »Tanz der Pappkameraden«. Auf kleinen und großen Pappschildern werden da im ganzen Land die herausgeputzten Gesichter der Volksvertreter vor die Tür gestellt. lm Fernsehen dürfen sie dann grobe Allgemeinplätze und böse Verdächtigungen äußern. Damit das wieder zu Ende geht, geht das Programm normal weiter. Eine Reihe von diesen Pappgesichtern wird ausgewählt, die müssen alles so weiter machen wie bisher. Dass niemand merkt, was das für ein Trauerspiel ist.

Das sozialliberale Puppenspiel geht in die vorläufig letzte Runde. Die Aktien fallen, bei der für’s Kapital zu langsam wachsenden Repression. Sie fallen bei der zu schwach steigenden Profitrate. Das »soziale Netz« ist zu kostspielig und die »Leistungsbereitschaft» zu gering.

Die Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben und die Endlagerung in den Salzstöcken lässt sich in dieser Regierung machtpolitisch nicht durchsetzen. Der Bau vieler AKWs und Autobahnen, der Bau der Startbahn West, des Erdinger Flughafens, des Altmühlkanals und anderer umweltgefähr-
dender Großprojekte lässt sich nicht im gewünschten Tempo verwirklichen. Die Ausbeutung der Dritten Welt geht zu schleppend voran. Waffenlieferungen an Militärregierungen sind noch nicht »Beitrag des Steuerzahlers zur Gesundung deutscher Wirtschaftsinteressen«.

Der Hintergrund ist die »internationale Arbeitsteilung«. »Intelligente Produktion« bleibt in den Industrieländern; einfachere Fabriken werden nach Brasilien, Spanien, Nordirland, Türkei, Chile usw. verfrachtet, wo die billigen Arbeitskräfte ohne Nachtzuschlag oder 13. Monatsgehalt, ohne »Sozialpartnerschaft«mehr Profit bringen.

Schon länger existiert der Raubbau an den natürlichen Bodenschätzen der Dritten Welt und die Politik, abhängige Monokulturen zu schaffen. Westdeutschland hat eine Vormachtstellung in Europa (»germanisatione«) und gehört damit zu den beherrschenden Mächten des Weltmarktes. Es schafft innen- und außenpolitisch die Bedingungen für die überstaatlichen Konzerne des westlichen Bündnisses, die Ausplünderung möglichst großer Teile der Welt voranzutreiben.


Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 87 ff.

Überraschung

Jahr: 1982
Bereich: Alternative Szene