Materialien 1984

Ausblicke

Gesprächsfetzen werden zu einem endlosen Gedankenwurm, der sich in den Schwanz beißt: »… no future – wo leben wir denn – es wird immer schlimmer – was willste noch machen – scheißegal – wenn die Atombo – und der saure Reagen – armes Deutschland – schau die Grünen an – was machst Du denn – willst Du Märtyrer spielen – etablierte Stellvertreter – langer Marsch – kommt nicht an – Aussteiger – Einsteiger – Träumer – Alternativling – Sozialpisser – Müsli, was willst du denn?

»… wo sich Endzeitstimmung breit macht, ist kein Raum mehr für soziale Utopien. Der Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben steht zurück hinter der Frage des nackten Überlebens. Jeder Ausweg legitimiert sich von selbst, wenn er nur Hoffnung auf Rettung verspricht. Was immer unterhalb der Schwelle der Katastrophe daraus erfolgt, es dient der Abwendung eines vermeint-
lich größeren Übels. Die Drohung mit dem Weltuntergang verschafft den staatlichen Souveränen das Mittel, um jedes Opfer nach innen durchzusetzen und vergleichsweise zweitrangig erscheinen zu lassen.«
(aus einem Diskussionspapier der RZ zur Friedensbewegung)

Perspektiven als abstrakte Denkmodelle oder als Schicksalsroulette? Du stehst am Flipper oder vor dem Videospiel. Der Apparat gewinnt immer. Oder ganz altmodisch Karussell fahren: Wer ist stär-
ker, die Trägheit oder die Bewegung?

In diesem Labyrinth nehm ich lieber einen Faden mit, damit ich wieder hinausfinde. Such ich einen Weg für mich oder andere? Eine Richtung für meine täglichen Schritte oder eine Entschuldi-
gung für meine Schwäche?

Ich brauch meine Utopie, um da weiterzukommen.

Ist ja nichts Neues – die Geschichte mit der konkreten Utopie.

»I live today« – heißt, ich kann jeden Tag versuchen, eine Revolution zu machen. Ich kann mein Leben verändern und meine Beziehungen. Zusammenleben oder arbeiten. Zusammen nicht arbei-
ten und schlemmen. Stühle rücken und Barrikaden bauen. Fassaden abreißen und Wände bema-
len. Streiten und lachen. Engstirnige Gemüter aus der Fassung bringen. Türen öffnen und andere verriegeln. Auseinandersetzen und voneinander lernen. Den Apparat kennenlernen und die eigene Stärke. Kämpfen und lebendig bleiben …

Es geht um mich. – Es geht um dich, wenn ich dir sagen kann, was mit mir los ist. Es geht um dich, wenn ich offen bin für das, was dich bewegt.

»I and I« – »romantischer Verlierer« – »Späthippie«

Ist mir egal. Diese Kisten und Schubladen sollen in den Händen der Bleistiftkauer und Hirnakro-
baten verstauben.

Das Weglassen der eigenen Person bedeutet Fassaden aufbauen. Fassaden aus Sachlichkeit, logi-
scher Argumentation, … sind angelernte Verhaltensmuster. Das greift um sich. Geradliniges Den-
ken, kreuzen sie an, ja oder nein. Alles hat die Ordnung, mit der wir die Gehirne der Menschen rastern. Entpersönlichung. Ja, auch die Linken …

Es entwertet alle Beteiligten (Freunde, Genossen, Mitglieder …) zu unpersönlichen Mitstreitern für oder gegen eine Sache.

Das »Ich« wird untergeordnet, dafür erscheint ein »Wir«, das genauso verlogen oder langweilig ist, wie Politiker gerne von »Wir« sprechen.

Ich meine, ein Funke von Widerstand springt über, wenn es persönlich wird. Wenn ich Betroffen-
heit spüre oder Lebenslust, »Gefühl und Härte«.


Börni, Annette, Ruth, Mathias, Hartmut (Wächtler), Christopher, Lilo, Billy und Andrea (Wolf) mit Beiträgen von Wolfi und Reinhard, Stark sein – stärker werden, München Januar 1984, 105 f.

Überraschung

Jahr: 1984
Bereich: Alternative Szene